Die Kanzlerin - Roman
Kreuzberg in einem solchen Zustand aufgefunden wurde.
»Der berühmteste Berliner ist ein Friseur«, sagte Loderer, »und er hat Diabetes.«
»Aber wir sind doch alle schwul«, säuselte der Designer.
»Du ja, ich nicht«, sagte Loderer.
»Hast du Kinder, Mann?«
»Habe ich nicht«, sagte Loderer.
»Siehst du. Wozu dann der Aufwand? Du musst dich performen, Mann, du lebst in Berlin. Welcome to Berlin. Oder wie Der Spiegel geschrieben hat: Comeback einer Grossstadt. «
Loderer lächelte. Zehn Jahre nach der Wende hatte die Stadt sehr viel Geld ausgegeben für eine Plakatkampagne mit schwarzen, gelben, braunen, grünen und vermutlich auch rosaroten Gesichtern, jedenfalls Ausländergesichtern. Und der Slogan behauptete: Berlin ist eine Grossstadt. Es gab auf der Welt keine andere Grossstadt, die speziell darauf hinweisen musste. »Berlin ist speziell«, sagte Loderer. In den Park ging er nur nachts und nur imSommer. Nachts gehörte der Park den Jugendlichen, den Schwulen, den Künstlern und den jungen und alten Pärchen, die sich anstandslos auf schmutzige Bänke setzten. »Ich verstehe nichts von Mode«, fügte er hinzu.
»Du willst dich einfach nicht performen, Mann. Schade. Jammerschade.«
Loderer hatte kalten Schweiss auf der Stirn.
»Und du hast Angst, Mann. Das sieht man dir doch an. Wovor hast du Angst? Nimm deine Sonnenbrille ab, ich will dir in deine Augen sehen. Du hast doch nichts dagegen. Du hast doch sicher wunderschöne blaue Augen.«
»Meine Augen sind blau«, sagte Loderer, »und auch du trägst eine Sonnenbrille.«
»Entspann dich. Entspann dich endlich. Geniess es. Berlin macht frei.«
Loderer merkte plötzlich, dass er tänzelte wie der Designer. Er hatte ihn schon zwei-, dreimal im Park getroffen, aber noch nie mit ihm geredet.
»Du bewegst dich gut, Mann, Respekt, das hat Stil. Du bleibst deinem Stil treu, du bewegst dich verkrampft, aber das macht nichts, weil du dir treu bleibst, und das ist das Wichtigste«, und jetzt rappte der Designer: »Die Treue ist es, Mann, treu, treu, treu zu dir selbst, traust du dir selbst, dann traust du auch andern über den Weg, und ich bin der andere, mit anderem Blut, aber das ist auch gut, das andere Blut, und du brauchst es wie ich, das andere Blut, weil du bist, so wie ich, ein Mensch, ein Mensch, und die sind aus Fleisch und aus Blut, und das Blut in uns, an unseren Händen, das kommt, das ist das Leben der anderen.«
»Schluss für heute, hat Spass gemacht mit dir«, sagte der Designer plötzlich, umarmte, herzte und küsste ihn auf die Wangen, bevor er sich in die Büsche schlug und verschwand.
Völlig verschwitzt kam Loderer zu Hause an und setzte sich sofort an den Computer.
»Klient bedient. Bist du da, Controller?«
Loderer öffnete seinen Reissverschluss. »Ich schwitze, Frau Male. Und du?«
»Habe heisse Hände. Einen Menschen durchzubewegen macht heisse Hände. Dann wasche ich mich. Mit eiskaltem Wasser. Aber ich habe danach trotzdem immer heisse Hände.«
»Hast du meine E-Mail gelesen? Eventuell sind dann nicht nur deine Hände heiss gewesen?«
»Controller, du hast deinen Reiz, das gebe ich gerne zu. Obwohl ich mich über mich selbst wundere und mich frage, was mich eigentlich fesselt. Zum Beispiel an Pornoszenen, die doch einigermassen platt und stereotyp sind. Wobei ich jetzt immerhin weiss, dass du auf Fetische stehst. Und dass du den richtigen Nickname für dich gewählt hast, das weiss ich jetzt auch. Wer sonst käme auf die Idee, seine Geilheit ordnen zu wollen und von mir zu erwarten, dass ich seine versauten Phantasien durchnummeriere? Aber, Controller, Frauen ticken ein bisschen anders. Kennst du die zehn Regeln der Lady Bitch Ray? Die erste Regel lautet: ›Du hast einen Grund zum Feiern: Du hast eine Möse, und du bist eine Frau, die weiss, was sie will. Steh dazu, Bitch!‹ Ich stehe dazu. Grüsse dich, Frau Male.«
Er war schon zu erregt: »Hunger nach deinen Wünschen. Heisshunger nach deinen Phantasien. War der Typ erregt, als du ihn massiert hast?«
»Controller, ich bin Physiotherapeutin und massiere nicht. Ich schaffe ein Gleichgewicht in der Muskulatur. Ich fasse die Leute an, um geschwächte Muskeln wach zu rütteln mit bestimmten Klopftechniken …«
»Es hat, glaube ich, bei mir geklopft … Und ich glaube da, wo es bei mir am lautesten pocht …«
»Ich klopfe auf Oberarme, zwischen Schulterblätter, auf Pomuskeln … aber ich massiere nicht. Ich habe den Typ durchbewegt, und er hat sich dafür
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