Die Kanzlerin - Roman
Marketing, und die Strategen dieser Show waren nicht anwesend. Nur die Ameisen. »Unterschätzen Sie mir diese Ameisen nicht«, hatte die Kanzlerin einmal zu ihm gesagt, als er nach einerenervierend belanglosen halben Stunde eine abfällige Bemerkung gemacht hatte. Heute sagte sie: »Kranich, es ist unerträglich heiss, und ich habe das Bedürfnis nach einem Schwätzchen auf dem Balkon.«
Die Kanzleramtsarchitekten hatten wirklich an alles gedacht. Auf dem Balkon der Kanzlerin gab es sogar eine schusssichere Nische. Die Kanzlerin sagte: »Danke, Damen, Herren, dann auf ein frohes Schaffen«, und wartete, bis alle gegangen waren. »Fahrstuhl oder Treppe, Herr Kranich? Ich schlage vor: Fahrstuhl, obwohl ich bekanntlich gern wandere. Aber so seltsam die Wege des Herrn sind, so seltsam mutet es einen an, in diesem Haus Stufen erklimmen zu wollen, wenn man angeblich schon ganz zuoberst ist, und zudem sehen Sie blass aus. Nehmen wir den Fahrstuhl.«
Die Kanzlerin drückte auf den achten Knopf. Kranich schaute auf die Leuchtanzeigen. Zwischen dem dritten und vierten Stockwerk gingen die Lichtlein aus, und der Aufzug blieb stehen.
»Herr Kranich, jetzt sind Sie sogar leichenblass.«
»Platzangst. Ich habe Platzangst.«
»Und ich mag es, wenn ich eine gewisse Distanz wahren kann. Was für Situationen aller Art gilt, also auch für diese. Sie sind mir für eine Weile näher, als mir das lieb ist, Herr Kranich. Und wenn Sie Ihren Schweissausbruch möglichst schnell unter Kontrolle bringen könnten, wäre das für mich eine gewisse Erleichterung.«
Kranich setzte sich auf den Boden.
»Was machen Sie da, Kranich? Sie kauern auf dem Boden wie ein Kaninchen, und glauben Sie mir: Das ist kein sehr aufmunternder Anblick. Also stehen Sie auf. Allein schon der Symbolik wegen. Wir haben das gemeinsam durchzustehen, und so furchtbar ist das nicht. Wir haben eine gute Haustechnik …« Sie schaute auf die Uhr und drückte den Notrufknopf. »Stickig ist es, obwohl doch angeblich stündlich 260 000 Kubikmeter Luft in mein Kanzleramt geblasen werden und der rührige Betriebsleiterunserer Technik zu sagen pflegt: ›Wir machen eine Menge Luft hier.‹ Stickig ist es trotzdem.«
»In fünf bis zehn Minuten ist die Panne behoben«, sagte eine Lautsprecherstimme und fragte: »Alles in Ordnung, Frau Kanzlerin?«
»Danke der Nachfrage«, sagte sie und beobachtete Kranich. Er stand wieder, atmete aber schwer. »Sie hyperventilieren, Kranich, atmen Sie ruhig ein und aus. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass das Atmen für Sie keine Selbstverständlichkeit ist. Als ob Sie sich selbst immer wieder den Atem nähmen und so ins Stocken kämen. Herr Kranich, auch wenn es paradox klingt: Nutzen Sie die Gunst der Stunde. Wir sind allein hier, also machen Sie sich einmal Luft. Ich kann schweigen wie ein Grab. Bei dieser Gelegenheit: Sind Sie ein Friedhofgänger?«
»Nein, warum?«
»Weil Sie auf mich so wirken, Kranich. Und weil es in Ihren Kreisen ja nicht unüblich ist, Urlaubsziele auszusuchen nicht zuletzt gemessen daran, ob sich an diesen Destinationen auch schöne Friedhöfe mit berühmten Begrabenen finden.«
»Dazu gehöre ich nicht«, sagte Kranich und wischte sich die Stirn ab.
»Endlich«, sagte die Kanzlerin. »Endlich höre ich Sie einmal richtig atmen. Normalerweise wirken Sie auf mich eher wie ein Stockfisch, wie einer, dem etwas den Atem raubt. Oder der sich selbst den Atem nimmt. Was macht Sie eigentlich so stockfischig, Kranich?«
»Wir brauchen noch ein paar Minuten, Frau Kanzlerin, der Defekt ist etwas schwieriger zu beheben, als wir angenommen haben«, meldete sich die Lautsprecherstimme zurück.
»Sie werden uns hier schon nicht ersticken lassen, hoffe ich«, sagte sie, und Kranich schaute in ihr Gesicht. Sie lächelte. »Ach, Kranich, was seid ihr Schweizer doch für ein merkwürdiges Völkchen.Ich werde sie ja bald wieder besuchen, diese Schweiz, aber manchmal denke ich, dass sie mir fremder ist als die Sowjetunion. Ich rede jetzt von der deutschen Schweiz. Kranich, wie würden Sie die Deutschschweizer denn charakterisieren?«
»Wir sind eigenbrötlerischer als die Deutschen und misstrauisch gegenüber allen Autoritäten.«
»Eigenbrötlerisch heisst verschroben«, sagte die Kanzlerin.
»Anarchistischer«, sagte Kranich.
»Die Schweizer sind Chaoten? Quatsch.«
»Anarchie hat, definitionsgemäss, mit Chaos prinzipiell nichts zu tun.«
»Sind Sie ein Anarchist, Kranich?«
»Alle Schweizer neigen dazu etwas
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