Die Kanzlerin - Roman
den Stand der bisherigen Ermittlungen vortragen wird«, sagte der Chef des Bundeskriminalamtes. Jens Brack hatte ein gewisses Verständnis für den Unmut der Kanzlerin, auch darum, weil er selbst gelegentlich zu Ausbrüchen neigte, die nicht immer angemessen waren. Die Kanzlerin verkniff sich weitere Kommentare.
Frontzeck stand vor einer weissen Folie, jemand machte das Licht aus im Raum, und die Kanzlerin sah auf einen Plan, der in der Folge eher umständlich erläutert wurde. »Wir haben die Tote um 21 Uhr 33 gefunden«, sagte Frontzeck, »und zwar hier« – er machte ein Kreuzchen im Abfallraum, den sie auch schon benutzt hatte, und zwar ohne Personenschutz. »Unsere Einsatzkräfte …«
»Licht an«, sagte die Kanzlerin. »Sie werden Ihre Arbeit tun, meine Herren, auch wenn ich nicht mehr unter Ihnen weile, sondern meine Geschäfte erledige. Aber vorher will ich die Faktenlage. Was weiss man? Fakten, Wahrscheinlichkeiten, Mutmassungen, in aller Kürze.«
Pierre Haxer wollte es so kurz wie möglich machen und erteilte Jens Brack das Wort. Und Brack machte es auch kurz: »Frau Hell wurde umgebracht. Ein Suizid kann ausgeschlossen werden. Die Tatumstände sprechen für eine Beziehungstat. Frau Hell hatte bis vor ein paar Wochen ein Verhältnis mit einem ihrer Kollegen. Kurz vor ihrem Tod hatte sie Geschlechtsverkehr. Anzeichen dafür, dass sie vergewaltigt worden ist, gibt es nicht, aber die gerichtsmedizinischen Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen. Der Exfreund von Frau Hell hat sich gestern zum Zeitpunktdes Verbrechens ebenfalls in Ihrem Haus aufgehalten, das haben erste Auswertungen der Videokameras ergeben. Er ist verschwunden. Wir haben eine Sofortfahndung eingeleitet sowie eine Ringfahndung. Zur Stunde werden die Räumlichkeiten des Gesuchten, gestützt auf eine richterliche Genehmigung, von Beamten des Landeskriminalamtes durchsucht. Der flüchtige Personenschützer steht unter dem dringenden Verdacht, seine frühere Geliebte und Kollegin Gabriela Hell getötet zu haben. Über das Motiv lässt sich derzeit noch nichts sagen. Treffen diese ersten Annahmen zu, hat das Verbrechen an Gabriela Hell also keinen direkten Bezug zu Ihrer Person.«
»Wie heisst er?«, fragte die Kanzlerin.
»Tim Boron«, sagte der BKA-Chef.
»Glaub ich nicht«, sagte die Kanzlerin. »Boron ist ein guter Mann, einer der Besten.«
»Auch Frau Hell gehörte zu unseren Besten«, sagte Brack und betonte, dass weiter in alle Richtungen ermittelt werde. »Aber es spricht vieles dafür, dass Boron unser Mann ist.« Das Doppeldeutige seiner Aussage bemerkte er nicht.
»Weiss die Presse davon?«, fragte die Kanzlerin.
Kanzleramtschef Haxer schüttelte den Kopf, und Regierungssprecher von Aretin sagte: »Ich schlage vor, vorerst strengste Vertraulichkeit zu wahren und die Medien erst dann zu informieren, wenn der Sachverhalt geklärt ist. Es könnte sonst zu Spekulationen kommen, die in der Bevölkerung unnötige Ängste schüren würden.«
»Da stimme ich Ihnen zu, Herr von Aretin, eine Terrorismusdebatte wollen wir uns nicht leisten derzeit, zumindest keine überflüssige. Was sagt Benedikt?«
»Innenminister Eisele hat Kenntnis von diesem Verbrechen und wünscht, auf dem Laufenden gehalten zu werden. Ein Mitarbeiter seines Ministeriums nimmt an den Beratungen des Krisenstabesals Beobachter teil«, sagte von Aretin und war froh, dass damit das Informationsbedürfnis der Kanzlerin für den Moment befriedigt schien.
Sie stand auf, schaute sich um und sagte: »Was passiert ist, erschreckt mich offen gesagt sehr. Und sollte sich tatsächlich bewahrheiten, dass Boron dieses Verbrechen begangen hat, dann wäre das für mich persönlich eine sehr grosse Belastung. Ein Schutzengel tot, der andere ein Mörder. Meine Herren, jeder hat einen Schutzengel, heisst es, und es wäre mir lieb, wenn ich nicht auf einen Schlag gleich zwei verlieren würde.«
D ie Anfrage war ungewöhnlich und kam vor allem ungemein spät, gemessen an dem, was nun alles aufzugleisen war. Klausen seufzte, stützte seinen Kopf mit beiden Armen, las noch einmal, was er gelesen hatte, was aber nichts änderte. Vier deutsche Minister wollten einen Tag auf dem Säntis verbringen, in drei Wochen, und möglicherweise reiste auch die Kanzlerin an. Klausen holte sich die provisorische Traktandenliste der letzten Bundesratssitzung vor den Sommerferien. Auch wenn sie klein war, diese Schweiz: Ein Bundesrat hat immer eine volle Agenda, und diese letzte Sitzung war
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