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Die Kanzlerin - Roman

Die Kanzlerin - Roman

Titel: Die Kanzlerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lenos Verlag
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Siegermentalität und den Reiz von Bratpfannen.«
    Kranich wollte die Vögel sehen, denen Puller zugeschaut hatte.
    »Nun verstehe ich Sie, Herr Kranich, und warum Sie sich so krude Gedanken machen. Es gibt keine Kausalitäten mehr, keine Zusammenhänge. Die Logik bleibt auf der Strecke. Der Spiegel spricht von geistiger Umweltverschmutzung, und es gibt Computerwissenschaftler, die Denkschutzgebiete fordern, Geisteslandschaften, geschützt wie Wälder und Auen. Herr Kranich, Siebringen mich ins Grübeln, was an sich nicht Ihre Aufgabe ist. Sie nehmen an der PK teil und rapportieren mir, was Eisele dort alles gesagt haben wollte. Dass Liebe bedrohlicher sein kann als Terrorismus, das könnte ihn schon etwas wurmen.«

B ossdorf fluchte. Ein paar Stichworte, fast keine Fakten, und Eisele wollte das Redemanuskript spätestens in einer Stunde. Er hätte den Auftrag ablehnen sollen. Er hätte sagen sollen, dass er an einem anderen Text arbeiten müsse. Aber er hatte geschwiegen, als ihm Haxer am Telefon den Auftrag erteilte. Bossdorf druckte sich die neueste Studie von forsa aus: Der Mörder in uns  – eine Umfrage, laut der 44 Prozent der Deutschen glauben, dass jeder einen Mord begehen könnte. Sowie ein Interview mit Psychologieprofessor Gallwitz von der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen: Gallwitz meinte, das Volk irre sich. Auch Extremsituationen müssten nicht zwangsläufig in einen Mord münden. »In der Realität gibt es hemmende Faktoren, die eine Person davon abhalten können, bis zum Äussersten zu gehen – in der Fiktion nicht.« Nicht zwangsläufig.
    Eiskalte Hände. Der Anfall kam plötzlich. Ein Schüttelanfall. Bossdorfs Körper wurde durchgerüttelt, in Schüben, die er nicht kontrollieren konnte. Frostschübe. Ein physischer Kälteeinbruch, der ihn zu einem hilflos zitternden Spielball machte, zu einem schlotternden Etwas, das krampfartig durchgeschüttelt wurde. Draussen über dreissig Grad. Aber Bossdorfs Kopf versank in seinen hochzuckenden Schultern und suchte Halt. Seine Arme, die Hände vibrierten. Atmen, dachte er, ruhig atmen, dann bäumte sich sein ganzer Körper auf, und die Zahnreihen knallten hart aufeinander. Bossdorf wusste, dass das der Höhepunkt war. Wenn die Zähne wild aufeinanderprallten und er die Zunge schützen musste. Aber er schaffte es nicht, Unter- und Oberkiefer zu fixieren. Der Anfall war stärker, und Bossdorf heulte auf. Ein furchtbarerSchmerz in der Unterlippe, in die sich ein Vorderzahn gequetscht hatte. Ein Schmerz, der die Kontraktionen für ein paar Sekunden unterbrach, bevor ein neuer Schub Bossdorf packte, der verkrümmt auf seinem Stuhl sass und eine Stellung suchte, in der die Muskeln sich beruhigen konnten. Er presste seine Zähne zusammen, stand auf, öffnete das Fenster, wischte sich die Stirn ab und wusste, dass der Anfall vorbei war, so plötzlich, wie er gekommen war.
    Noch 45 Minuten. Bossdorf setzte sich an den Schreibtisch und kennzeichnete mit einem grünen Marker einige Passagen: »Viele Menschen sind in bestimmten Situationen in der Lage, sich auf eine Art und Weise zu wehren, wie sie es nie von sich erwartet hätten.« Gallwitz sagte auch, dass Männer in Stresssituationen körperlich reagierten, Frauen dagegen emotional. Seine Folgerung: »Es ist also davon auszugehen, dass Männer eher zu einem Mord in der Lage sind.« Was die Statistik beweise. Die folgende Aussage markierte Bossdorf nicht: »Einige Menschen sind schon im Alltag von Hass getrieben und sehr leicht reizbar. Kommt zu dieser negativen Energie noch eine geringe Hemmschwelle und fehlt die soziale Eingebundenheit, zum Beispiel durch Beziehung oder Familie, so ist diese Person leichter ihren Emotionen ausgeliefert als andere.«
    Aber vielleicht könnte Innenminister Eisele darauf verweisen: »Kränkung und Verletzung des Selbstwertgefühls ist wohl der häufigste Tötungsgrund.« Bossdorf machte eine Pause und nahm ein Sandwich aus seinem Alukoffer. Er mochte die Sandwiches seiner Mutter. Mit Schinken, Käse oder Eiern, manchmal mit Tatar. Und trotzdem mochte er es nicht, dass sie ihm welche machte. Aber jetzt biss er in ein Käsesandwich und kaute und merkte nicht, dass er immer kräftiger zubiss, dass er plötzlich rasend vor Wut kaute und dabei laut schnaufte. Es schmeckte ihm, und gleichzeitig widerte es ihn an, alles widerte ihn an. Sollte Eiseledoch sagen, was er wollte. Keine Ahnung hatte er, Eisele, nicht die leiseste Ahnung. Und dieser Gallwitz zählt zu den

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