Die Kanzlerin - Roman
geführt werden, wenn der Sachverhalt klar scheint.«
Frankfurter Allgemeine: »Stimmt es, dass Herr Boron nach der Wende für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hat?«
Von Aretin: »Selbst wenn das zutreffen sollte, was ich nicht weiss, dürfte ich Ihnen diese Frage nicht beantworten.«
Der Spiegel: »Herr Innenminister Eisele, Sie haben vorhin betont, dass es sich bei dieser Geschichte um ein tödliches Liebesdrama handelt …«
Eisele: »Diesen Ausdruck habe ich nicht verwendet …«
Der Spiegel: »Sie haben gesagt, man solle in diese menschliche Tragödie nichts hineingeheimsen, reden andererseits aber selbst von internationalem Terrorismus.«
Eisele: »Ich habe Sie dringend darum gebeten anzuerkennen, dass der Tod von Frau Hell und der Freitod von Herrn Boron keine Berührungspunkte mit irgendwelchen Bedrohungen durch das internationale Verbrechertum haben. Und das habe ich darum gesagt, weil Sie im Nebel herumgestochert und diffuse Nachrichten verbreitet haben, ohne Kenntnis der Faktenlage und unter Inkaufnahme möglicher wilder Spekulationen. Dem bin ich hier entgegengetreten.«
Der Tagesspiegel: »Warum hat die Regierung die Öffentlichkeit nicht bereits gestern über den Tod von Frau Hell informiert?«
Von Aretin: »Da zu diesem Zeitpunkt ein politisches Motiv noch nicht auszuschliessen war, wurde, wie bereits gesagt, zuerst ein Krisenstab einberufen und eine Sonderkommission mit dem Fall betraut …«
Eisele: »Die Regierung hat von Anfang an das schlimmstmögliche Szenario angenommen – was sich dann, gottlob, so nicht bewahrheitet hat.«
Bild: »Gab es am Tatort beziehungsweise am Fundort der Leiche von Frau Hell Besonderheiten?«
Frontzeck: »Was verstehen Sie unter Besonderheiten?«
Bild: »Gab es irgendetwas, was nicht ins Bild passte? Anders lässt sich das leider nicht formulieren.«
Frontzeck: »Ich verstehe Ihre Frage nicht.«
Bild: »War Frau Hell zum Beispiel auffällig gekleidet? Trug sie ihre Waffe bei sich?«
Frontzeck: »Nein, ja. Frau Hell war nicht auffällig gekleidet, und sie trug ihre Waffe bei sich.«
Neue Zürcher Zeitung: »Stimmt es, dass die mobile Rufnummer der Kanzlerin ausgetauscht werden musste?«
Eisele: »Ich weiss nicht, woher Sie Ihre Informationen haben. Richtig ist, dass im Rahmen routinemässiger Sicherheitsvorkehrungen eine solche Massnahme erfolgt ist, was also nichts Ungewöhnliches ist. Diese Massnahme hat im Übrigen keinen Bezug zum hier erörterten tragischen Geschehen.«
Münchner Merkur: »Wird die Kanzlerin aufgrund dieses Geschehens keinen Sommerurlaub machen?«
Eisele sah schon die Schlagzeile: Zwei tote Leibwächter – aber mutige Kanzlerin fährt trotzdem in Urlaub.
Von Aretin: »Für einen solchen Schritt gibt es überhaupt keinen Anlass. Die Kanzlerin wird ihren Urlaub wie geplant antreten.«
Eisele: »Gestatten Sie mir noch ein ganz persönliches Wort, in aller Offenheit gesagt, auch wenn das ja angeblich nicht klug sein soll, wenn Politiker sich offen äussern. Diese Geschichte berührt mich tief. Sowohl Herr Boron als auch Frau Hell haben mich in den vergangenen Jahren immer wieder begleitet, im In- und im Ausland. Sie haben also mein Leben beschützt. Und nun sind beide tot, und auf einem der Toten lastet ein furchtbarer Verdacht. Das ist der Grund, warum ich hier sitze. Politiker haben die Form zu wahren, aber wir sind alle auch Menschen. Und als Mensch und Christ habe ich in diesen letzten Stunden auch gebetet. Es kann für Gewaltverbrechen keine Entschuldigung geben. Aber andererseits sagt uns die Wissenschaft, dass jeder – also auch jede und jeder von Ihnen – unter gewissen Umständen in der Lage wäre, einen anderen Menschen zu töten. Auch diese bittere Einsicht gehört zum Menschsein. Und jetzt bitte ich Sie, mich zu entschuldigen.«
Eisele liess sich zum Fahrstuhl begleiten und verschwand, bevor die Fernsehstationen mit ihm ihre geplanten Interviews machenkonnten. Regierungssprecher von Aretin und BKA-Kommissar Frontzeck sahen sich daher entsprechend gereizten Fragen der frustrierten Journalisten ausgesetzt.
Als sich der Innenminister am Abend die ARD- Tagesschau ansah, empfand er zumindest die Anmoderation als fair und sachlich: »Innenminister Benedikt Eisele hat heute in Berlin Spekulationen bestätigt, wonach sich im Team der Personenschützer aus dem Kanzleramt eine Tragödie abgespielt hat. Offenbar hat ein langjähriger Leibwächter der Kanzlerin eine Kollegin getötet, nachdem diese eine intime
Weitere Kostenlose Bücher