Die Kanzlerin - Roman
drei klassischen Hauptmordmotiven auch die Habgier, gefolgt von Rache. Und erst danach folgten sexuelle Motive, Eifersucht, Hass und Liebe – was er als »buntes Gemisch« bezeichnet. »90 Prozent aller Morde sind Beziehungsdelikte«, Taten, bei denen sich Opfer und Täter kannten. Diese Aussage markierte Bossdorf. Gallwitz, der Profiler. »Manche Arten zu töten setzen einfach andere Fähigkeiten voraus – sowohl körperliche als auch charakterliche.«
Was heisst Charakter?, dachte Bossdorf. Jemandem mit den eigenen Händen den Hals zuzudrücken und ihm dabei ins Gesicht zu sehen erfordert nicht nur ein erhebliches Mass an Kraft, sondern auch eine wahnsinnige Wut. Alle sind wütend, alle haben diese Wut, alle sind wahnsinnig. Und alle haben diese Kraft, weil alle diese Wut haben.
Noch zwanzig Minuten. Bossdorf schrieb: »Zum möglichen Tatmotiv sollten Sie sich nicht äussern. Sondern vielmehr – aufgrund der Faktenlage – lediglich herausarbeiten, dass es sich mutmasslich um ein Beziehungsdelikt handelt, um so mögliche Spekulationen über (theoretisch denkbare) andere Täterschaften und allenfalls politische Motive zu unterbinden.«
W as dieser Bossdorf ihm da hatte zukommen lassen, war absolut unbrauchbar. Benedikt Eisele ärgerte sich. Die ganze Geschichte passte ihm nicht. Wenn sich die Kanzlerin schon die Freiheit nahm, mit einer offensichtlich gefährlichen Person zu kommunizieren, und das über Tage, ohne mit ihm je über diesen Mozart persönlich gesprochen zu haben, und wenn sich diese Dame erlaubte, ihren Innenminister zu einer Pressekonferenz zu nötigen, die auch der Regierungssprecher hätte abhalten können, dann, dachte Eisele, ist das jedenfalls keine Politikerin, die sehr vielWert legte auf ein gemeinsames Vorgehen. Oder aber sie wollte ihn in Verlegenheit bringen. Eisele traute ihr alles zu und überprüfte noch einmal die Fakten. Zwei Personenschützer waren tot. Eine menschliche Tragödie. Allerdings eine, die sich im nächsten Umfeld der Kanzlerin abgespielt hatte, was die Medien wussten. Also würde es Fragen geben, die aus dieser Geschichte mehr machen wollten. Doch er würde sich nicht provozieren lassen.
Eisele war entschlossen, an diesem Nachmittag über Terrorismus kein Wort zu sagen. Obwohl ihm sowohl Martin Puller, der BND-Chef, als auch Verfassungsschutzchef Kai Auerbach dringend dazu geraten hatten. Mit Verweis auf die ungeklärte Mozart-Geschichte, vorsichtshalber. Politisch aber wäre es falsch, dachte Eisele. Die Sozialdemokraten zerfleischten sich selbst und füllten die Bühne.
Gabriela Hell, Tim Boron.
Eisele prägte sich diese beiden Namen ein und las noch einmal durch, was die kriminaltechnischen Untersuchungen ergeben hatten. Irritierend: die weiss lackierten Nägel der Toten. Wovon die Presse aber nichts wusste. Der Leiter der Sonderkommission würde neben ihm sitzen. Frontzeck. Ein ausgefuchster BKA-Beamter. Eisele machte sich ein paar Notizen, hatte im Übrigen aber die Angewohnheit, auf den Moment zu vertrauen. Bossdorfs Informationen steckte er in sein Jackett.
Der Pressesaal war berstend voll. Eisele lächelte ein paar wichtigen Journalisten zu, es war immer ratsam, etwa die Süddeutsche, die FAZ oder auch die Bild speziell zu begrüssen. Aufmerksamkeiten, die sich zwar nie sofort auswirkten, sich aber à la longue durchaus auszahlen konnten. Er musste Sätze sagen, mit denen er die Tonlage der kommenden Tage bestimmte. ARD, ZDF, RTL, aber auch die Newssender: seine Pressesprecher hatten die separaten Interviewtermine festgelegt. Eisele schaute ins Leere und konzentrierte sich.
Der Leiter der Bundespressekonferenz begrüsste ihn.
»Wir danken dem Innenminister, Herrn Benedikt Eisele, dass er sich so kurzfristig bereit erklärt hat, die Medien über ein Geschehen persönlich zu informieren, das in den letzten Stunden im Kreis der Kollegen für grossen Gesprächsstoff gesorgt hat. Herr Minister Eisele, Sie haben das Wort.«
»Verehrte Anwesende, die Frau Bundeskanzlerin hat mich gebeten, Sie über Vorfälle zu informieren, die in den letzten Stunden Nachrichten auslösten, die hohe Wellen geworfen und auch zu völlig haltlosen Spekulationen geführt haben. In Wirklichkeit aber haben wir es mit einer menschlichen Tragödie zu tun, die sowohl die Kanzlerin als auch mich sowie das ganze Kabinett tief betroffen macht. Zu meiner Linken sitzt Regierungssprecher von Aretin, der Sie in aller gebotenen Sachlichkeit über die Ereignisse informieren wird, rechts
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