Die Kanzlerkandidatin - Kriminalroman
alle glauben. Sie hat ein doppeltes Gesicht, sie ist absolut skrupellos. Nach außen gibt sie die anständige, moralisch gefestigte Politikerin, redet von Werten und hehren Zielen. In Wirklichkeit …“ Er beendete den Satz nicht. Er schweifte ab und ging nun doch auf ihre sexuellen Gewohnheiten ein. „Sie hat die harte Tour gemocht, ans Bett fesseln und so. Sie brauchte das, um runterzukommen. Manchmal musste ich sie bis zur Bewusstlosigkeit würgen. Vielleicht wollte sie sich ja auch selbst bestrafen, weil sie tief in ihrem Inneren gespürt hat, wie kaputt sie ist. Ihre narzisstischen Züge sind krankhaft. Sie will um jeden Preis Karriere machen. Und wenn ich sage, jeden, dann meine ich es auch so.“
Am Anfang haben wir uns alle in ihr getäuscht, selbst das alte Schlachtross Albi. Und doch fühlte sich Wagner bemüßigt, seine Fraktionsvorsitzende in Schutz zu nehmen. „Marion ist nicht verheiratet. Es ist okay, wenn sie sich junge Liebhaber nimmt. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, die Bürger nehmen es ihren Politikern nicht übel, wenn sie Sex haben, selbst wenn er schräg ist“, gab er zu bedenken. „Sie sind nicht minderjährig und wussten, was sie taten. Dass sie Ihnen einen Anschlussjob besorgt hat, spricht für sie. Wo ist das Problem?“
Pietro gab sich nicht die geringste Mühe, seinen Ärger über Wagners Worte zu verbergen. Seine Augen blitzten. „Sie ist nicht die, für die alle sie halten“, wiederholte er. „Marion Klaßen hat ein zweites Gesicht, eines für die Öffentlichkeit und eines, das ihren wahren Charakter offenbart. Aber das bekommt kaum jemand zu sehen. Sie ist eine von Machtgier getriebene Frau. Um ihr Ziel zu erreichen, setzt sie sogar ihren Körper ein. Wussten Sie, dass sie mit dem Kanzler eine Liaison hat?“
Jetzt übertreibt er, dachte Wagner. „Das glaube ich Ihnen nicht. Der Kanzler ist Mitte sechzig und herzkrank. Außerdem ist er glücklich verheiratet.“
Pietro lächelte verkniffen. „Wer es glaubt, wird selig. Auch wenn er herzkrank ist, sind seine Hormone noch intakt. Und er war nicht der einzige Politiker, mit dem Marion Sex hat. Sie hat mit mehreren Abgeordneten der Fraktion geschlafen, um sich auf diese Weise Stimmen zu kaufen. Sonst wäre vermutlich Wächter Fraktionsvorsitzender geworden.“
Warum kamen immer alle mit ihren Problemen zu ihm, fragte sich Wagner. Offensichtlich war ihm nach Albis Tod die Rolle des Beichtvaters der Fraktion zugefallen. „Schön und gut, aber weshalb erzählen Sie mir das alles? Ich habe nicht mir ihr geschlafen und ich habe es auch nicht vor“, stellte Wagner fest.
„Weil Sie ein netter Kerl sind, nicht so hochnäsig wie die meisten anderen Abgeordneten. Außerdem will ich Sie warnen. Marion hat Sie auf dem Kieker und lässt Sie beobachten. Sogar Ihren Computer und Ihre Mails lässt sie checken. Es gibt jemanden, der die Drecksarbeit für sie macht. Ich konnte leider noch nicht herausfinden, wer es ist. Vermutlich ist es der Chef des Sicherheitsdienstes der Landtagsverwaltung. Er ist sehr oft in ihrem Büro und sie achtet dann penibel darauf, dass die Tür geschlossen ist. Außerdem gibt es einen Maulwurf im LKA, der sie stets über den aktuellen Stand der Mordermittlungen auf dem Laufenden hält.“
Während Wagner seinem mitteilsamen Besucher zuhörte, musste er sich eingestehen, dass er nicht den geringsten Zweifel an Pietros Darstellung hegte. Seit Wochen hielten sich hartnäckig Gerüchte in der Fraktion, dass Marion Klaßen ihre parteiinternen Gegner ausspionieren ließ. Nur die Sache mit dem Kanzler hielt er für abwegig. Das überstieg einfach sein Vorstellungsvermögen. Er wandte sich Pietro zu, der bei seinem wilden Gestikulieren das Wasserglas umgestoßen hatte. Eine Pfütze breitete sich auf dem Tischtuch aus. „Was wissen Sie über das Klinikprojekt in der Nähe von Bad Pyrmont?“
Pietro sah ihn überrascht an. „Welche Klinik bei Bad Pyrmont? Darüber weiß ich nichts. Weshalb fragen Sie?“
„Nur so“, wiegelte Wagner ab. „Tobias Wächter war mit dem Vorhaben befasst. Sind Sie sicher, dass Marion Klaßen nichts damit zu tun hat?“
„Sicher kann man sich bei ihr niemals sein.“ Nach einem Blick auf die Küchenuhr stand er auf. „Ich muss gehen, eine Verabredung.“ Er reichte Wagner seine Hand. „Wir werden uns nicht wiedersehen. Ich fliege morgen früh nach Palermo, um meine neue Stelle anzutreten. Mir lag sehr viel daran, reinen Tisch zu machen, bevor ich das Land
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