Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Gott, dass du auf alles verzichtest, was dieses Leben lebenswert macht – die Freude, das Lachen, die Liebe? Ist es Vollkommenheit, auf die eine Hälfte der Welt zu verzichten, um in der anderen zu leben – dich zu quälen?«
Giovanni schüttelte geduldig den Kopf. »Nein, das ist nur der Weg vom einen Extrem ins andere. Viele Fratres verwechseln das Werden mit dem Sein. Sie glauben, dass sie vollkommen sind, wenn sie den Habit der Armut tragen, gehorsam ihr Stundengebet verrichten und sich geißeln, um sich schmerzhaft daran zu erinnern, warum sie vor der Welt flohen.«
»Und was glaubst du?«
»Ich glaube an den Weg der Mitte, den Jesus und vor ihm Bud-dha gegangen sind. Der eine, Siddharta, hat seinen Palast verlassen, um asketisch zu leben, um Alter, Krankheit und Tod kennen zu lernen. Der andere, Rabbi Jeschua, hat in der Wüste die Askese aufgegeben und genoss sein Leben, um glaubwürdig von Liebe, Freude und Vergebung zu predigen. Beide Propheten haben beide Extreme gelebt, Haben und Nichthaben, Lust und Leid, Agonie und Ekstase, und erst dann konnten sie sich für das Weder-Noch entscheiden.« Giovanni sah mir fragend in die Augen: Verstand ich, was er mir sagen wollte? »Armut bedeutet nicht, nichts mehr zu besitzen, nicht einmal die Kleidung, die man trägt. Armut bedeutet nicht, zu frieren, zu hungern und zu dürsten. Jesus hat nie Armut, Entbehrung und Leiden gefordert – er und Siddharta haben den Reichtum verdammt. Das ist etwas völlig anderes. Besitz erfordert Aufmerksamkeit, belastet dich mit Sorgen, macht dir Angst, und nur aus dem einen Grund, weil du ihn verlieren könntest. Deshalb habe ich Gian Francesco meinen Titel und meinen Besitz verkauft und das Geld Girolamo gegeben. Ich will frei sein«, sagte er ruhig.
»Frei?«, fragte ich zweifelnd.
»Ich gehöre mir selbst, nicht mehr meinem Besitz. Nicht mehr meinen Sorgen, nicht mehr der Angst. Im Konvent muss ich nicht arm sein, Caterina, denn ich bringe kein Opfer, sondern gehe aus meinem eigenen freien Willen. Ich darf arm sein, denn ich werde versorgt und um meiner selbst willen geliebt, nicht weil ich Giovanni Pico della Mirandola, der reiche Conte von Concordia, bin, der sich alles kaufen kann – alles, bis auf seinen Seelenfrieden.«
»Seelenfrieden«, murmelte ich. »Glaubst du wirklich, dass du dich selbst erlösen kannst?«
»Wer, wenn nicht ich selbst?«, fragte Giovanni. »Ich muss diesen Weg gehen. Jesus sagte: ›Kehrt um und folgt mir nach.‹ Er sagte nicht: ›Wartet, ich werde euch durch meinen Opfertod erlösen.‹«
Giovanni sah das amüsierte Lächeln auf meinen Lippen und seufzte. »Danke, dass du wieder lachst, Caterina«, flüsterte er und küsste mich sanft.
»Du verstößt jetzt schon gegen deine Gelübde«, hauchte ich und erwiderte seinen Kuss.
»Ich bin kein Engel, Caterina. Ich kann nicht aufhören, ein Mensch zu sein. Ich kann nicht aufhören zu lieben. Ich will es auch nicht«, antwortete er zärtlich. »Ich muss nicht wählen zwischen meiner Liebe zu Gott und meiner Liebe zu dir. Ich liebe euch beide. Was ich aber lernen muss, ist, mich selbst zu lieben. Das, und nichts anderes, bedeutet die Keuschheit – nicht die sexuelle Enthaltsamkeit, die unschuldige Unberührtheit, sondern die Konzentration auf mich selbst, das Loslassen von allem, was ich nicht haben kann, was ich nicht bin .«
»Dein Entschluss steht also fest?«, fragte ich resigniert.
Giovanni litt unter meiner Hoffnungslosigkeit, ich sah es ihm an. Die innere Windstille schützte ihn nicht vor dem Wirbelsturm Caterina, der ihn mit sich zu reißen versuchte.
»Ja, mein Entschluss steht fest«, sagte er und küsste mich zart. »Halte mich nicht fest, Caterina«, flüsterte er, als er sich aus meiner Umarmung entwand. »Lass mich gehen!«
Es klopfte noch einmal, dieses Mal energischer, ungeduldiger.
Die Tür meines Laboratoriums war verriegelt. Ich wollte nicht öffnen. Nicht jetzt und nicht später. Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Transmutation im Alambic und ignorierte den tobenden Piero draußen vor der Tür.
Mein Bruder hämmerte mit beiden Fäusten zornig gegen das schwere Eichenportal: »Öffne die Tür, verdammt!«, brüllte er. Dass ich ihn, den allmächtigen Regenten von Florenz, nach unserem Streit vor ein paar Tagen aus meinem Laboratorium verbannt hatte, erzürnte ihn maßlos – fast ebenso wie die Erkenntnis, dass er keine Macht über mich hatte.
Piero war vor wenigen Tagen mit Giulio von der
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