Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Blut von den Lippen.
»Kommt nicht infrage«, protestierte mein Cousin und versuchte, mir die Waffe zu entwinden. »Das ist Wahnsinn! Du kannst dich kaum auf den Beinen halten. Du blutest. Du kannst nicht …«
Ich kann! Und ob ich kann! Ich hatte es meinem Bruder versprochen: »Ich werde immer für dich da sein, Gianni! Ich werde hinter dir stehen und dir aufhelfen, wenn du stürzt. Ich werde dich niemals allein lassen!« Und wenn es das Letzte war, was ich in diesem Leben tat. Viel mehr als ein Haufen Scherben – Splitter zerplatzter Träume, Trümmer eines zerstörten Laboratoriums – war davon ohnehin nicht mehr übrig. Ich entriss Giulio den Degen, stürmte aus dem Raum und stolperte die Treppe hinunter. Ob mir jemand folgte, war mir egal. Ich war wie von Sinnen und hatte nur noch ein Ziel: Gianni zu retten.
Im Hof riss ich die Tasche auf, die ich aus dem explodierten Laboratorium gerettet hatte, zerrte meinen purpurfarbenen Talar heraus, zog ihn über Hemd und Hose, nahm den Degen, dann eilte ich zum Gittertor im Torbogen.
Als ich hinaus auf die Via Larga trat, war ich umgeben von einer lärmenden, drängenden Menge Bewaffneter. Die Rufe »Popolo e Libertà« und das Dröhnen der Domglocken umfingen mich wie zuvor der laute Donner der Explosion. Ich drängte vorwärts, um zu Gianni zu gelangen. Er war so weit entfernt!
Als mich die ersten Männer erkannten, traten sie einen Schritt zurück. Sie wagten nicht, mich zu berühren. Mit all dem Blut im Gesicht musste ich wirklich Furcht erregend ausgesehen haben.
»La Cardinala« , hörte ich von allen Seiten, während die Menschen vor mir zurückwichen. Also waren die Verse vom Pasquino in Rom auch schon in den Straßen von Florenz breitgetreten worden!
Mein Herz raste, mein Kopf dröhnte von Pieros Schlag, und am liebsten hätte ich den Rückzug hinter das schützende Tor des Palazzo angetreten. Meine Hand, die den Degen hielt, zitterte. Aber schon das kleinste Zeichen von Unsicherheit oder Schwäche hätte zur gewaltsamen Erstürmung des Palazzo geführt. Ein kleiner Funke hätte genügt, um diese explosive Mischung aus Erregung, Hoffnungen und Ängsten in Brand zu stecken. Die Menge, unbeherrscht und unberechenbar, wäre über uns hergefallen. Also: Ruhe bewahren! Nicht stehen bleiben! Schritt für Schritt weitergehen!
Gebieterisch hob ich die Hand, als wollte ich geheimnisvolle Mächte zu Hilfe rufen, und die wogende Menge teilte sich vor mir wie das Meer vor Moses. Die Florentiner wichen zurück und bekreuzigten sich hastig, als ich langsam, ohne ein Wort zu sagen, die Via Larga hinunterschritt.
»Sie wagt es, allein den Palazzo zu verlassen! Hat sie denn keine Angst?«, hörte ich jemanden hinter mir flüstern. »Sie ist mit Satan im Bund!«
»Sie hat mit Papst Alexander Schwarze Messen gelesen«, antwortete jemand. »Man sagt, sie haben zusammen Blut getrunken, um Satan zu opfern, bevor sie sich einander hingaben.«
»Seht nur, das Blut auf ihren Lippen …!«
O mein Gott!, dachte ich. Seit der Explosion des Laboratoriums roch mein Talar tatsächlich ein wenig nach Schwefel …
Unaufhaltsam schritt ich weiter durch die Menge, bis ich die Loggetta an der Straßenecke erreichte. Gianni lehnte erschöpft an der Mauer. Vor ihm lag seine Soutane im Staub.
Dankbar ergriff mein Bruder die ausgestreckte Hand. Dann trat ich, ohne ihn loszulassen, einen Schritt nach vorn, um seine Soutane aufzuheben. Die Menge wich schweigend, beinahe scheu vor mir zurück. Die Domglocken waren mit einem letzten klagenden Laut verstummt. Eine Stille, intensiver und bedrohlicher als das Dröhnen der Glocken eben, legte sich wie ein Leichentuch über die Via Larga. Kein Geräusch war zu hören: kein Waffengeklirr, keine Rufe. Florenz hatte den Atem angehalten.
Jahrelang unterdrückte Verachtung, Hass auf den Tyrannen und der Wille, ihn nicht länger zu erdulden.
Die Stille hatte etwas Unwirkliches. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Gleich würde etwas geschehen, sich mit furchtbarer Gewalt entfesseln, sich erregen, sich an der eigenen Kraft berauschen, sich mächtig fühlen, unüberwindlich, und wie ein tobender Orkan alles vernichten, was sich ihm in den Weg stellt.
Ich legte Gianni den Purpur um und zog ihn zum Tor des Palazzo. Ich weiß nicht mehr, wer sich an wem festhielt, um nicht zu stürzen und den anderen mit ins Verderben zu reißen. Sie hätten uns totschlagen können – warum sie es nicht taten, weiß ich nicht.
Giulio, der mir auf die Straße gefolgt war,
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