Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
mühsam über die Steinfliesen kroch.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit – ich dachte zynisch: den Rest meines Lebens –, bis ich die Truhe erreicht hatte, mich abstützte und aufrichtete, den Deckel der Holzkassette öffnete und nach der ersten Phiole Aurum potabile griff. Meine Hände zitterten so stark, dass ich sie beinahe zerbrochen hätte, als ich versuchte, den Korken aus der Glasflasche zu ziehen. Mit den Zähnen gelang es mir schließlich, die Phiole zu entkorken. Ich richtete mich an der Büchertruhe auf und trank die kleine Flasche mit fünf Schlucken leer. Die honiggelbe Flüssigkeit war süß, mit einem bitteren Nachgeschmack. Wie das Leben!, dachte ich und griff nach der zweiten Phiole, die ich gierig leerte.
Die Wirkung des Aurum potabile war verblüffend. Alles war plötzlich so hell und klar, als hätte jemand gesagt: »Es werde Licht!«, und alle Schatten verschwanden. Ich hatte das Gefühl, in zwei Wirklichkeiten zu sein, die gleichzeitig existierten, die sich gegenseitig überlagerten, wie … ja, wie was? Agonie und Ekstase? Leben und Tod? Mit zitternden Händen griff ich nach der dritten Phiole und trank sie leer. Als ich mich aufrichtete, um nach dem vierten Fläschchen zu greifen, brach ich zusammen. Im Fallen riss ich das Holzpferdchen mit und begrub es unter mir auf den kalten Steinfliesen, als ich ohnmächtig wurde.
Guido war zutiefst erschüttert über meinen Selbstmordversuch, aber er verlor kein Wort darüber. Er ersparte mir Unsinnigkeiten wie: »Tu so etwas nie wieder!«, denn er wusste, warum ich es getan hatte. Er hielt mich einfach nur im Arm, als ich erwachte, drückte mich an sich, liebkoste mich und schwieg.
Schon wenige Stunden nach meinem Erwachen fühlte ich mich besser. Die Schmerzen ließen nach, und ich konnte mich wieder bewegen. Ich konnte aufstehen, aus eigener Kraft. Ein herrliches Gefühl! Ich war lebendig wie noch nie zuvor, geradezu berauscht von der Intensität des Lebens in mir. So musste Lorenzo empfunden haben, als Giovanni ihm die erste Phiole gegeben hatte! Und Lorenzo hatte nur eine einzige getrunken … nicht drei.
Ich hatte überlebt. Und ich genoss das Gefühl, lebendig zu sein, in vollen Zügen. Doch der bittere Nachgeschmack des Aurum blieb: Wenn die letzten zweiundzwanzig Phiolen aufgebraucht waren, würde ich in einigen Wochen sterben. Nicolaus’ Horoskop würde sich bewahrheiten. Unausweichlich.
»Geliebte! Komm um Mitternacht in die Kathedrale. Ich will dir etwas zeigen«, hatte auf dem Pergament gestanden. Sonst nichts. Nicht einmal eine Unterschrift. Aber ich wusste auch so, dass Guido es geschrieben hatte. Ein Diener hatte mir seine Nachricht während des endlosen Banketts für den französischen Botschafter unauffällig unter den Silberteller geschoben, während er mein Kristallglas mit Wasser füllte. Guido hatte mich geheimnisvoll angelächelt, während ich die Nachricht las. Das war irgendwann zwischen dem vierzehnten und fünfzehnten Gang gewesen.
Kurz vor Mitternacht erhob er sich und bat die Anwesenden, noch sitzen zu bleiben und den Abend zu genießen. Dann verabschiedete er sich höflich vom französischen Botschafter und gab vor, sich in seine Räume zurückzuziehen. Wenig später erhob sich auch Maestro Raffaello und verschwand aus dem Bankettsaal. Sein Freund Francesco della Rovere sah ihm verblüfft nach. Raffaello war üblicherweise einer der letzten Gäste, die nach Hause gingen. Francesco zuckte mit den Schultern, ließ sich sein Weinglas nachschenken und widmete sich wieder ganz der Unterhaltung. Er schien es zu genießen, Louis’ Gesandten mit seinem fließenden Französisch zu beeindrucken, das er während seiner Ausbildung in Paris gelernt hatte.
Als auch ich mich um Mitternacht erhob und, ein Gähnen andeutend, von den Gästen verabschiedete, sah Francesco mich irritiert an. Irgendetwas ging hier vor, und niemand hatte ihn eingeweiht! Ärgerlich wünschte er mir eine gute Nacht.
Ich verließ den Bankettsaal, durchquerte die Loggia und stieg langsam die Treppen hinunter in den von unzähligen Fackeln beleuchteten Innenhof des Palastes. Während der letzten beiden Stunden voller tödlich langweiliger Gespräche hatte ich mich hundert Mal gefragt, was Guido mit mir um Mitternacht in der Kathedrale wollte. Trotz der späten Nachtstunde war das Tor noch immer geöffnet. Als ich an den Bewaffneten vorbeigehen wollte, hielten sie mich auf. Ich erklärte ihnen, dass ich nur die wenigen Schritte zur Kirche hinübergehen
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