Die Kardinälin: Historischer Roman (German Edition)
Thomas von Aquino die Zähne ausgebissen …
»Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit?«, kam die geflüsterte Frage durch die Finsternis geweht.
»Die Philosophie sucht die Wahrheit, die Theologie findet sie, die Religion besitzt sie«, zitierte ich Giovanni, ohne mich festzulegen, was genau denn nun diese Wahrheit ist.
Das Echo meiner Worte war ein amüsiertes Schnaufen von der anderen Seite des Raumes. Offensichtlich war das nicht die erwartete Antwort. Aber was wollten die Signori im schwarzen Talar denn von mir hören? Einen Beweis nach den Regeln der Logik des Aristoteles? Ein triumphierendes Quod erat demonstrandum? Was, zum Teufel, ist die Wahrheit?
Ich kam mir unendlich dumm vor, unwissend und auf eine erschreckende Weise auch unbedarft – obwohl ich fast ein Drittel der Conclusiones gelesen hatte, dazu Bücher von Platon, Albertus Magnus, Thomas von Aquino, Abu Ali Ibn Sina und einigen anderen der größten Gelehrten der Welt. Aber ich hatte beim besten Willen keine Ahnung, was die Wahrheit war. Es gab so viele Wahrheiten! Platon hatte ebenso intelligente Dinge geschrieben wie Aristoteles. Albertus Magnus hatte mehr gewusst als sein Schüler Thomas von Aquino, aber war er ihm deshalb überlegen? Waren seine Bücher deshalb wahrer? Und was war mit den Kirchenvätern? Waren sie den muslimischen Gelehrten überlegen, nur weil sie sich im Besitz der »Einen Wahrheit« glaubten? Auch unter den christlichen Gelehrten gab es von der Kirche Verdammte: die Gnostiker. Aber ihre Thesen waren doch deshalb nicht unwahr! Der Einzige, der mit Sicherheit eine Wahrheit gefunden hatte, war Sokrates …
Ich holte tief Luft und sprach aus, was ich in diesem Moment aus tiefstem Herzen fühlte: »oida oyden eidos – Ich weiß, dass ich nichts weiß«, zitierte ich Sokrates – es war das einzige Zitat, das ich auf Griechisch konnte. »Ich habe erkannt, dass es unermesslich viel gibt, von dem ich nichts weiß. Und ich ahne, dass da noch unendlich viel mehr ist, von dem ich nie wissen werde, dass es überhaupt existiert. Ich glaube, aber ich will wissen – so viel wie möglich! Ich will lernen! Alles, was es zu lernen gibt!«
Ein unruhiges Geflüster unterbrach mich, aber ich ließ mich nicht beirren. »Was willst du lernen?«, wollte einer der Schatten wissen.
»Alle Wahrheiten. Denn die ›Eine Wahrheit‹ gibt es nicht«, sagte ich mit fester Stimme.
Schweigen. Dann erhob sich der Erste der Schatten und verließ ohne ein Wort zu sagen die Bibliothek. Die anderen folgten ihm still. Nur ein Schatten blieb mit mir zurück.
Habe ich die Examination bestanden?, fragte ich mich beunruhigt. Aber warum lässt sich niemand herab, mir das mitzuteilen? Oder hatten die Männer in den schwarzen Talaren resigniert den Raum verlassen, weil sie meine Unwissenheit und meine Vermessenheit, das auch noch bekannt zu geben, nicht länger ertragen konnten?
Ich war sicher, dass Giovanni mir gegenübersaß. Warum sagte er nichts? Schämte er sich für mich, weil ich ihn vor seinen Freunden blamiert hatte? Wenn ich doch nur sein Gesicht sehen könnte!
»Ich habe eine Bitte«, sagte ich in das Schweigen hinein.
»Welche Bitte?«, fragte Giovanni aus der Dunkelheit. Er flüsterte nicht mehr.
»Meine Antworten waren wahrscheinlich nicht das, was du oder deine Freunde erwartet hattet. Aber es war das, was ich in den letzten dreizehn Nächten lernen konnte. Ich habe mich bemüht, die Conclusiones zu lesen und zu verstehen …«
»Du hast dich gequält: Nacht für Nacht«, sagte Giovanni. »Es ist mir nicht entgangen.« War das ein Schimmer von Anerkennung in seiner Stimme?
»… ich habe Albertus Magnus gelesen und Thomas von Aquino, Platon und Aristoteles und all die anderen Bücher. ›Facere quod in se est – Jeder Mensch soll seine Bestimmung erfüllen‹, hast du geschrieben. Ich weiß jetzt, was ich tun will, was ich tun muss. Bitte, Giovanni, bitte sag mir, dass das alles nicht vergeblich war.«
»Es war nicht vergeblich«, antwortete er ruhig.
»Wirst du mich lehren, die Wahrheit zu suchen und zu finden?«
»Ja«, versprach er.
»Wirst du mich leiten, wenn ich vom rechten Weg abkomme?«
Er lachte: »Ja.«
»Willst du mich lehren und als deine Schülerin aufnehmen?«
»Ja, ich will«, sagte er, als er sich von seinem Sessel erhob.
Ich riss ihn fast um, als ich in der Finsternis um den Tisch herumstolperte, um ihn stürmisch zu umarmen.
Meinen Kuss beantwortete er mit aller Leidenschaft für die Wahrheit.
Kapitel 5
… und du
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