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Die Kartause von Parma

Die Kartause von Parma

Titel: Die Kartause von Parma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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nur an den Fenstern. Auf den drei anderen Seiten blieb ein schmaler Gang von vier Fuß Breite zwischen den kahlen Kerkermauern aus riesigen Quadern und den Plankenwänden des Käfigs. Die vier Käfigwände bestanden aus doppelten Planken von Nußbaum, Eiche und Tanne und waren fest miteinander verbunden durch zahllose eiserne Bolzen und Nägel.
    In eine dieser vor Jahresfrist erbauten Zellen, Meisterstücken Fabio Contis, die den netten Namen ›Zum passiven Gehorsam‹ erhalten hatte, wurde Fabrizzio gesteckt. Er lief an die Fenster. Die Aussicht von diesen vergitterten Fenstern war erhaben. Nur gegen Nordwesten war ein Stück des Horizontes durch die Dachgalerie der hübschen Kommandantur verbaut, die nur zwei Stockwerke hatte. Im Erdgeschoß lagen die Geschäftszimmer. Fabrizzios Blicke fielen sofort auf eines der Fenster des Oberstocks, vor dem hübsche Käfige mit vielen Vögeln aller Arten hingen. Fabrizzio lauschte erfreut ihrem Gesang und blickte dem letzten Schimmer der Abenddämmerung nach, während die Gefängniswärter sich um ihn herum zu schaffen machten. Das Vogelbauerfenster war keine fünfundzwanzig Fuß von dem seinen entfernt, lag aber fünf bis sechs Fuß tiefer, so daß er auf die Vögel hinabsah.
    An jenem Tage war Mondschein. Als Fabrizzio seine Zelle betrat, ging gerade der Mond erhaben im Nordosten auf, über der fernen Alpenkette, nach Treviso zu. Es war erst halb neun Uhr abends. Am jenseitigen Horizont, gegen Westen, hoben sich im hellen Lichte derorangeroten Dämmerung die scharfen Umrisse des Monte Viso und anderer Alpengipfel ab, die sich von Nizza bis zum Mont Cenis und bis Turin hinüberziehen. Ohne irgendwie an sein Unglück zu denken, war Fabrizzio von diesem erhabenen Anblick gepackt und hingerissen. ›In dieser Zauberwelt also lebt Clelia Conti! Bei ihrer ernsten, nachdenklichen Seele muß sie diese Fernsicht mehr genießen als jeder andere Mensch. Hier weilt man gleichsam in einsamen Höhen, tausend Meilen fern von Parma.‹
    Fabrizzio verbrachte mehr als zwei Stunden am Fenster und bewunderte den Horizont, der seine Seele rührte. Öfters ließ er seine Blicke auch nach der hübschen Kommandantur hinüberschweifen, bis er mit einem Male ausrief: »Aber ist das denn ein Kerker? Das, was ich so sehr gefürchtet habe?« Statt bei jedem Schritt Unannehmlichkeiten und Anlaß zu Ärgernis zu entdecken, ließ sich unser Held von den Reizen seines Gefängnisses bezaubern.
    Plötzlich wurde er durch ein fürchterliches Getöse gewaltsam in die Wirklichkeit zurückgerufen; sein hölzernes Gemach, eigentlich ein Käfig mit starkem Resonanzboden, bebte gewaltig. Hundegebell und quiekende Laute drangen aus diesem sonderbaren Getöse hervor. ›Was ist denn das? Sollte ich so bald wieder entrinnen können?‹ dachte Fabrizzio. Einen Augenblick später lachte er, wie vielleicht noch nie in einem Gefängnis gelacht worden ist. Auf Befehl des Generals war gleichzeitig mit den Gefängnisaufsehern ein englischer Hund, ein sehr bösartiges Tier, heraufgekommen, der dazu bestimmt war, besonders wichtige Gefangene bewachen zu helfen, und der die Nacht in dem so erfinderisch hergestellten Gang um Fabrizzios Käfig zubringen sollte. In diesem drei Fuß breiten Zwischenraum zwischen den kahlen Kerkermauern und den Holzwänden des Käfigs mußte außer dem Hunde noch ein Aufseher schlafen. So konnte der Gefangene keinen Schritt tun, ohne gehört zu werden. Nun aber war bei Fabrizzios Einzug die Zelle ›Zum passivenGehorsam‹ von etwa hundert riesigen Ratten bewohnt gewesen, die jetzt nach allen Richtungen hin ausrissen. Der Bullterrier war keineswegs schön, dafür jedoch sehr flink. Man hatte ihn an den Steinfliesen unterhalb des Holzkäfigs angebunden; als er aber die Ratten dicht an sich vorbeihuschen sah, riß er so stark an seiner Kette, daß es ihm gelang, den Kopf aus seinem Halsband herauszuzerren. Jetzt begann die großartige Schlacht, deren Lärm Fabrizzio aus seinen gar nicht trübseligen Träumereien weckte. Die Ratten, die sich vor dem ersten Biß des Hundes gerettet hatten, flüchteten in den Holzkäfig; der Terrier sprang die sechs Stufen hinauf, die zu Fabrizzios Zelle führten, und dort entstand nun ein noch viel entsetzlicheres Gepolter. Der Käfig bebte in seinen Grundfesten. Fabrizzio lachte wie närrisch, so daß ihm die Tränen über die Wangen liefen. Der Aufseher Grillo lachte nicht weniger und schloß die Tür. Der Hund, der die Ratten jagte, wurde durch keine Möbel

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