Die Kartause von Parma
Comer See, als der junge Mann zu Napoleon wollte. Es gibt doch noch große Seelen in Italien, man mag sie noch so unterdrücken! Teures Vaterland!‹
›Nein,‹ fuhr dieses vor Eifersucht flammende Herz fort, ›anders läßt sich ihr entsagungsvolles Stilleben auf dem Lande unmöglich erklären. Tag für Tag, Mahlzeit fürMahlzeit das scheußliche Gesicht des Marchese del Dongo und dazu die niederträchtige Heuchlerfratze des Marchesino Ascanio, die noch schlimmer ist als die des Alten! Trotz alledem, ich will ihr offen und ehrlich dienen! Zum mindesten habe ich das Vergnügen, sie nicht mehr nur durch mein Opernglas zu sehen.‹
In der Scala legte der Kanonikus den Damen die Sachlage klar und deutlich auseinander. Im Grunde war Binder gar nicht ungünstig gesinnt. Es war ihm recht lieb, daß sich Fabrizzio aus dem Staube gemacht hatte, ehe der Haftbefehl aus Wien eingegangen war. Aber er konnte nichts Entscheidendes in der Sache tun; wie in allen anderen Angelegenheiten wartete er auf Befehle von oben. Täglich schickte er genaue Abschriften aller Ermittlungen nach Wien; im übrigen wartete er ab.
Er verlangte aber: erstens, daß Fabrizzio in seiner Verbannung in Romagnano alle Tage in die Messe gehe, daß er einen geistvollen, monarchisch gesinnten Beichtvater nähme und ihm nur ganz harmlose Dinge beichte; zweitens, daß er mit niemandem verkehre, der als aufgeklärter Mensch galt, und immer nur mit Abscheu von revolutionären Dingen wie von etwas streng Verpöntem spräche; drittens, daß er sich in keinem Kaffeehaus blicken ließe und nie andere Zeitungen als die Amtsblätter von Turin und Mailand läse, im allgemeinen eine Abneigung gegen jede Lektüre zur Schau trüge, insbesondere nichts läse, was nach 1720 gedruckt sei, die Romane von Walter Scott allenfalls ausgenommen.
Diesen Bedingungen fügte der Kanonikus ein wenig boshaft als vierte hinzu, er müsse vor allen Dingen irgendeiner hübschen Dame des Landes, selbstverständlich aus der vornehmen Gesellschaft, offenkundig den Hof machen. Damit werde er beweisen, daß er nicht den finsteren, unzufriedenen Geist eines angehenden Verschwörers habe.
Vor dem Zubettgehen schrieben die Gräfin und die Marchesa zwei endlose Briefe an Fabrizzio, in denen sie ihmin reizendster Besorgnis die Ratschläge, die Borda gegeben hatte, darlegten.
Fabrizzio hatte ganz und gar keine Neigung zu Verschwörungen. Er liebte Napoleon, hielt sich in seiner Eigenschaft als Edelmann für ein bevorzugtes Wesen und fand das Bürgertum lächerlich. Seit seiner Schulzeit hatte er nie ein Buch in die Hand genommen, und auch da hatte er keine anderen Bücher gelesen als solche, die von Jesuiten zurechtgestutzt waren. Er nahm seinen Wohnsitz in einem prächtigen Landschloß unweit Romagnanos, einem Meisterwerk des berühmten Baukünstlers San Micheli [San Micheli: Michele San Micheli (1484-1559), dessen Hauptwerke man in Venedig sieht. Beyle hat hier vermutlich die berühmte Villa Soranza bei Castelfranco (in der Lombardei) im Sinne, die Vasari geschildert hat. Bei Romagnano findet sich kein Bau San Michelis.] . Da es seit dreißig Jahren unbewohnt war, regnete es in alle Zimmer hinein, und kein Fenster schloß ordentlich. Er beschlagnahmte die Pferde des Verwalters und ritt sie früh wie abends. Er war wortkarg und nachdenklich. Der Rat, sich eine Geliebte aus der staatsgetreuen Gesellschaft zu wählen, erschien ihm spaßig, aber er befolgte ihn buchstäblich. Zum Beichtvater nahm er einen ränkesüchtigen jungen Priester, der Bischof werden wollte wie der Beichtvater vom Spielberg [Spielberg: Die merkwürdigen Memoiren von Andryane, die spannend sind wie ein Roman und von bleibendem Wert wie Tacitus. (Stendhal.) Alexandre Andryanes ›Denkwürdigkeiten‹ sind 1837 erschienen. Der Spielberg ist das berüchtigte österreichische Gefängnis, wo die Vorkämpfer der Freiheit Italiens jahrzehntelang eingekerkert waren.] . Mitunter legte er drei Meilen zu Fuß zurück und hüllte sich in ein Geheimnis, das er undurchdringbar wähnte, um den ›Constitutionnel‹ zu lesen, den er erhaben fand. ›Das ist ebenso schön wie Alfieri und Dante!‹ rief er oftmals aus. Darin hatte Fabrizzio eine Ähnlichkeit mit den jungen Franzosen, die sich viel angelegentlicher mit ihren Pferden und ihren Zeitungen beschäftigen als mit einer ihnen treuen Geliebten. Jedoch war in seiner unverdorbenen und starken Seele noch kein Raum zur Nachäfferei der anderen, und er gewann keine Freunde in der
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