Die Karte der Welt (German Edition)
Ohrs aus dem Schädel ragte. Es strauchelte und krachte in einen Stapel Feuerholz, wo es reglos liegen blieb.
Geduckt eilte Vill die Uferböschung hinunter und ging dicht am Wasser in Deckung. Oberhalb preschte die Herde mit donnernden Hufen vorbei, und Vill versuchte, die Verluste in seinen Reihen abzuschätzen. Etwa fünfzehn Düsterlingfrauen und zehn Soldaten. Kein vernichtender Schlag, solange er nur selbst überlebte. Vill ging davon aus, dass der Blutrausch spätestens vorüber sein würde, wenn die bizarren Raubtiere genug Beute gemacht hatten. Sie waren wilde und schlaue Kreaturen, und blutrünstig, wie er deutlich sah. Ein Glück, dass Vill nichts empfinden konnte, auch keine Furcht. Andernfalls wäre er mit größter Sicherheit in Panik gewesen.
Das Problem war nicht die Zahl der getöteten Düsterlinge, sondern der Verlust an Disziplin. Er würde einen ganzen Tag brauchen, um seine Armee wieder zusammenzutreiben. Eine Handvoll disziplinierter Zehnertrupps würde reichen, um das fleischfressende Vieh aus dem Lager zu vertreiben. Vielleicht würden sie auch von selbst wieder abziehen, aber vor dem nächsten Morgen konnte er kaum etwas unternehmen.
Beinahe eine ganze Stunde harrte er am Fluss aus, dann schlich er sich hinauf zur Brücke. Er konnte keine Rinder entdecken, hörte kein verdächtiges Schnauben und auch kein Hufgetrampel, also kletterte er über die geborstenen Balken hinüber zu der Lichtung. Schließlich fand er den Holzstapel, den Schlitzer für den Magier aufgehäuft hatte. Er war verlassen. Vill fragte sich, ob der Düsterling ihn vielleicht woanders hingebracht hatte, als das Chaos ausbrach, um ihn in aller Ruhe weiter foltern zu können.
Vage sah er die Umrisse des weißen Turms in der Dunkelheit. Wie eine Erscheinung ragte er empor, die hellen Wände das Einzige, was in der wolkenverhangenen Nacht zu erkennen war. Das kleine Volk hatte sich die allgemeine Verwirrung nicht zunutze gemacht und keinen Gegenangriff unternommen. Wenigstens war es ihm gelungen, sie weit genug einzuschüchtern, um keinen Ausfall zu wagen. Vill wandte seine Gedanken dem Hauptmann zu, der bei ihnen war. Dieser Fretter war klug, und er genoss große Loyalität, sowohl bei seinen eigenen Leuten als auch bei den Winzlingen. Wie sonst hätte es ihm gelingen sollen, einen von ihnen zu jenem Selbstmordkommando zu überreden, mit dem sie das Katapult zerstört hatten. Ein Anführer von dieser Qualität würde die Nacht nicht ungenutzt verstreichen lassen, und Vill überlegte, was Fretter unternehmen könnte. Er versuchte sich vorzustellen, was er selbst tun würde, wenn er in dem Turm säße. Da er jedoch unfähig war, irgendetwas zu empfinden, war es ihm auch unmöglich, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. Also machte er stattdessen eine gedankliche Bestandsaufnahme.
Auf das, was im Turm vor sich ging, hatte er zur Zeit keinen Einfluss, daher war es für den Moment auch keiner weiteren Überlegung wert. Er konnte lediglich eingreifen, wenn sie vorhatten, den Turm zu verlassen. Sollten die Winzlinge oder die Menschen eine Flucht in Betracht ziehen, würden sie einen entsprechenden Versuch wahrscheinlich unternehmen, solange es noch dunkel war.
Sie wussten nicht, dass er seine Armee mittlerweile auf über zweihundert Soldaten vergrößert hatte, darunter eine ganze Kompanie Bogenschützen, die ihre Pfeile rund um die Uhr auf den einzigen Ausgang des Turms gerichtet hielten – außer während der letzten Stunde, als diese verfluchten Rinder ausgerechnet in seinem Lager ihre Fresspause eingelegt hatten.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hielten Hauptmann Fretter und der Kartenzeichner sich immer noch im sicheren Turm auf, doch selbst die winzig kleine Möglichkeit einer Flucht nagte an ihm. Das Auftauchen der Herde konnten sie nicht von dort drinnen in die Wege geleitet haben. Das war schlichtweg unmöglich. Andererseits hätte er noch vor einer Woche den Gedanken an die bloße Existenz derartiger Kreaturen als Hirngespinst, als bloße Fantasie zurückgewiesen, genauso wie die Möglichkeit, den Schleier zu versetzen. Ja, selbst die zweibeinigen Monster, über die er mittlerweile befehligte, hätte er ins Reich der Märchen verwiesen.
Seit beinahe einer Stunde hatte Vill kein Muhen mehr gehört.
»Fretter!«, rief er zum Turm hinauf und wartete, weil er wusste, dass der Wachposten die Nachricht von Vills Erscheinen erst an die entsprechende Stelle weitergeben musste. Als schließlich das Oberhaupt der
Weitere Kostenlose Bücher