Die Karte Des Himmels
sie von oben bis unten, irgendwie argwöhnisch, aber ohne jede Überraschung.
»Man hat mich eingeschlossen«, stieß sie hastig und mit stockender Stimme hervor. »Ich weiß nicht, wie das geschehen konnte. Bestimmt haben sie alle nach mir gesucht. Ich nehme an, dass Sie das Licht gesehen haben.«
Mr. Trotwood beachtete sie nicht, sondern hielt seine Laterne hoch und inspizierte den Raum. Als er die Matratze und das geöffnete Buch auf dem Tisch sah, verhärtete sich seine Miene. Er wandte sich ihr zu und sagte: »Sie sind hungrig, nehme ich an.«
»Ja, natürlich«, gab Esther zurück. »Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen.«
»Und ich vermute, dass Sie frieren.«
»Ja, ich habe gefroren.« Sie schlang ihren Umhang eng um sich. Sein seltsames Verhalten beunruhigte sie mehr und mehr.
Ein leises Geräusch drang aus seiner Kehle, dessen Bedeutung sie nicht abschätzen konnte. Er ließ seine Tasche neben der Wand zu Boden fallen.
»Mr. Trotwood, vielen Dank, dass Sie mich gerettet haben, aber können wir jetzt vielleicht gehen?«
Sie bewegte sich auf die Tür zu.
»Nicht so hastig«, sagte er ruhig und ergriff sie am Arm. Esther versteifte sich erschrocken.
»Die Herrin findet Sie, nun, sagen wir, unpassend.«
»Wie bitte?«, rief Esther. Dann wurde ihr bewusst, was seine Worte bedeuteten. »Waren Sie es, der mich hier eingeschlossen hat?«
»Nein«, sagte er in seiner langsamen und bedächtigen Art, »aber jemand hat seine Sache gut gemacht, oder? Komm schon«, befahl er und drehte ihr den Arm schmerzhaft auf den Rücken, »hier rauf. Sei ein braves Mädchen.« Er stieß sie in Richtung Leiter.
»Nein!«, schrie sie. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
Als Antwort drückte er ihr eine lederne Hand auf den Mund und zischte: »Mach mir ja keinen Ärger mehr, du kleiner Emporkömmling!«
Er zerrte sie die Leiter hinauf, Stufe für Stufe, während sie kämpfte und um sich schlug und zu schreien versuchte. Schließlich hatte er sie bis auf das Dach geschleppt. »Da drüber gehst du dahin!«, schrie er und zerrte sie zum Geländer. »Das arme kleine Ding, werden sie sagen, gramerfüllt nach dem Tod des alten Mannes, und dann sind wir dich endlich los ...« Plötzlich schrie er auf und trat aus, hätte Esther beinahe losgelassen. Jemand hatte ihn ins Bein gebissen, zur Hölle mit ihm! Er fuhr herum und erblickte ein Mädchen, dünn und in Lumpen. Woher war sie jetzt auf einmal gekommen? Wieder trat er zu, und das Mädchen stürzte auf die Plattform. Der Mond schien ihm ins Gesicht, und voller Überraschung erkannte Esther, dass es das Zigeunermädchen war.
Da Mr. Trotwoods Aufmerksamkeit abgelenkt war, nutzte sie die Chance und biss ihn kräftig in die Hand, die er mit einem Schrei fortriss. Esther wand sich aus seinem Griff und trat zurück, stolperte über das Gerüst des Teleskops und wäre fast gestürzt. Er kam auf sie zu. Sie packte das Teleskop, riss einen Teil davon ab und schwang ihn wie eine Keule. Er streckte beide Arme aus, um ihn ihr zu entreißen. Rowan warf sich gegen seine Beine, brachte ihn zum Schwanken, und Esther traf ihn mit ihrer Waffe auf die Schulter. Er taumelte, raffte sich wieder auf und stieß Rowan weg. Sie richtete sich auf. Beide Mädchen schauten ihn jetzt direkt an, Esther mit der üblen Waffe in der Hand. Er wich zurück und näherte sich dann von der Seite, vielleicht, weil er zuerst mit Rowan fertig werden wollte. Was dann geschah, überraschte sie alle: Sein Fuß verfing sich in der obersten Sprosse der Leiter, und er stürzte zur Seite. Sein Kopf krachte lautstark auf die gemauerte Brüstung. Einen Moment lang lag er da wie Goliath, der von einem Stein getroffen worden war, und Blut sickerte aus einer Wunde am Kopf.
Nach einer Weile setzte er sich auf, aber die Mädchen waren schon an ihm vorbei. Wie zwei verängstigte Mäuschen huschten sie zur Leiter. Rowan stieg zuerst hinab, dann folgte Esther, die die Lukentür schloss und den Riegel vorschob. Unten warteten sie ab, voller Angst aneinandergeklammert, und hörten, wie Mr. Trotwood an die Luke pochte und wüst fluchte. Nach ein oder zwei Minuten verstummte er plötzlich. Sie hörten ein dumpfes Geräusch, Schlurfen, ein Stöhnen. Danach Stille.
Die beiden Mädchen schauten einander an. Die Augen des Zigeunermädchens standen groß in ihrem schmalen Gesicht, als es die Hände ausstreckte, Esthers Hand nahm und sie sanft streichelte.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte Esther. »Ich bin so glücklich, dass du mich
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