Die Karte Des Himmels
unwirsch. »Du weißt genau, dass es Unsinn ist. Du weißt es.«
»Du bist es, die hier Unsinn erzählt hat«, stieß Claire verbittert aus, schlug die Hände vor das Gesicht und fing an, hemmungslos zu schluchzen.
Der Tag verging. Dann kam die Nacht, die sie im Zelt verbrachten, weil Claire sich in der Nähe des Ortes aufhalten wollte, wo sie Summer zuletzt gesehen hatte. Aber weder Claire noch Jude schliefen viel. In den frühen Morgenstunden wachte Jude auf und hörte, wie Claire wimmerte. Sie rutschte mit dem Schlafsack zu ihrer Schwester hinüber und schmiegte sich an sie. Überraschenderweise erlaubte Claire ihr, sie zu trösten. Jude fragte sich, ob das überhaupt schon einmal vorgekommen war. Claire hatte nie die beschützende ältere Schwester gespielt, hatte Jude nicht einmal an sich gedrückt, wenn sie geweint hatte. Nur in der Zeit nach Marks Tod war sie gekommen und hatte Jude umarmt, als ob es die natürlichste Sache auf der Welt wäre. Jude hatte sich an ihrer Schulter ausgeweint und zum ersten Mal seit dem Unfall ihren Gefühlen freien Lauf gelassen. Und jetzt war der Mensch, den Claire am meisten auf der Welt liebte, einfach verschwunden, und sie konnten nicht mehr füreinander tun als sich festzuhalten. Claire klammerte sich mit einer Verzweiflung an sie, die Jude glücklicherweise noch nie an ihr erleben musste und hoffentlich auch nie wieder an ihr erleben würde.
War wirklich erst ein Tag vergangen, seit sie vor Eifersucht auf Claire förmlich gebrannt hatte? Das schien so lange her zu sein. Und in diesem Moment empfand sie nicht die geringste Spur von Eifersucht. Ebenso wenig wie Mitleid, denn Jude fühlte genau das, was Claire auch fühlte. Sie beide liebten Summer. Und nun hatten sie sie vielleicht verloren. In diesem kurzen Moment stand nichts zwischen ihnen. Und in diesem Moment der reinen Wahrheit wagte Jude nach etwas zu fragen, nach dem sie niemals gefragt hatte, ja an das sie noch nie überhaupt bewusst gedacht hatte.
»Claire«, sagte Jude, »ich weiß, es ist verrückt, aber vor einiger Zeit bin ich auf eine komische Idee gekommen. Dass ... du wirst sagen, ich hätte vollkommen den Verstand verloren ... Mark Summers Vater war.«
Das Schweigen dehnte sich, länger und länger und länger, bis Claire sich schließlich räusperte. »Du bist verrückt. Wie um alles in der Welt kommst du darauf?« Dann drehte sie sich um und rückte ab. Eine Welle der Verzweiflung durchflutete Jude.
Beim ersten Sonnenstrahl traf die Verstärkung der Polizei ein, die die Suche fortsetzte. Die Stimmung verdüsterte sich, und man sprach vereinzelt von Entführung. Der Fußabdruck im Turm konnte darauf hinweisen, dass Summer auf eigene Faust hinaufgeklettert war oder aber auch, dass man sie dorthin gebracht hatte. Jude hörte, wie der Detective sagte: »Keine Anzeichen eines Kampfes.« Das klang irgendwie auch nicht so tröstlich, wie es eigentlich sollte. Die Art der Befragung durch die Polizei veränderte sich ebenfalls. Wen kannte Summer? Wen kannten Claire und Jude? War Summer im Internet gesurft? Ist sie jemals zuvor allein durch die Gegend gestreift? Aus den Mienen der Polizisten, die die Fragen stellten, konnte Jude nicht schließen, ob Claires Antworten hilfreich waren oder nicht.
Irgendwann in diesen entsetzlich wirren Stunden dachte Jude daran, Chantal anzurufen, und tat es dann auch. Sie empfand es als tröstlich, das warme Mitgefühl in der Stimme der Frau zu hören. »Ich habe für die kleine Summer gebetet. Ich bin überzeugt, dass man sie sicher wieder auffinden wird. Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben!« Jude musste den Anruf kurz halten, weil ihre Stimme zu brechen drohte, als sie sich bei Chantal bedankte.
Euan kehrte zurück, nachdem er den ganzen Tag lang den Wald durchsucht hatte. Er war erschöpft und irgendwie nur noch ein Schatten seiner selbst. Er saß da, die Arme auf die Knie gestützt und die Hände aneinandergepresst. Claire würdigte ihn keines Blickes, bis er schließlich zu ihr sagte: »Ich werde sie suchen und suchen und suchen, bis wir sie gefunden haben. Ich bringe sie dir zurück.« Aber Claire zuckte nur mit den Schultern.
Am frühen Abend kam der Detective mit dem jungen Constable und forderte Euan offiziell auf, ihn zu einer Vernehmung auf die Wache zu begleiten. Ihm wurde versichert, dass nichts gegen ihn vorlag. Euan ging mit, eine beinahe schon torkelnde Gestalt, die den Staub des Tages noch nicht abgestreift hatte. Die Kameras blitzten auf, als er in den
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