Die Karte Des Himmels
gefunden hast!«
Das Mädchen stieß zwei raue Silben aus, und als Esther verständnislos die Stirn runzelte, spielte es eine kleine Szene.
»Du hast geschlafen«, sagte Esther und schaute aufmerksam zu. »Und jemand hat dich aufgeweckt. Nein, du hast geträumt?«
Das Mädchen nickte und spielte, dass es keuchend losrannte.
»Du bist hergekommen, so schnell du konntest? Nun, darüber bin ich sehr froh.« Das Mädchen zog einen kleinen Ziegelstein aus seiner Rocktasche, um den immer noch Esthers Nachricht gewickelt war. Das Papier war durchnässt, die Schrift nicht entzifferbar. »Ja, das stammt von mir. Danke, oh, ich danke dir.«
Beide lauschten, ob oben vom Dach noch irgendein Lebenszeichen zu ihnen drang, hörten aber nichts. Dann fiel Esthers Blick auf Mr. Trotwoods Tasche. Außen an dem Gurt war ein totes Kaninchen festgezurrt. Eifrig löste sie die Schnalle, hoffte, in der Tasche etwas Essbares zu finden. Drinnen befanden sich eine Pistole und ein Stück Obstkuchen, der in ein Tuch gewickelt war. Die Pistole legte sie auf den Tisch neben ihr Tagebuch, knüpfte das Kaninchen los und gab es dem Mädchen, das seine Freude nicht verbarg, als es das Geschenk annahm. Dann teilte sie den Kuchen auf, und beide aßen hungrig.
Esther griff nach der Pistole. Noch nie zuvor hatte sie eine in der Hand gehabt, aber jetzt fummelte sie am Anschlag herum, legte dann den Zeigefinger an den Abzug und zielte mit der Waffe zitternd auf das Fenster. Ja, sie glaubte, sie könnte es tun, wenn es sein musste. Sie ging hinüber zur Leiter, kletterte hinauf und stieß gegen die Luke, die sich nicht rühren wollte. Irgendein Gewicht hielt sie geschlossen. Esther gab auf und kam wieder herunter, legte die Pistole erleichtert auf den Tisch zurück. Sie war nicht sicher, was sie eigentlich vorgehabt hatte. Ihn zu retten, ihn mit vorgehaltener Pistole den Turm hinunterzubringen, vielleicht.
Draußen frischte der Wind auf. Esther ging zu einem Fenster und schaute zu, wie einzelne Schneeflocken vom Himmel fielen. Was soll ich nur tun?, fragte sie sich.
Trotwood hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Nicht nur, dass Alicia ihr das Erbe von Starbrough Hall streitig machen wollte; diese Frau hatte sogar gehofft, ihr das Leben rauben zu können. Und Trotwood hatte sie darin unterstützt. Wer sonst unter den Dienstboten hätte so gehandelt? Gewiss nicht Susan, die Esther liebte wie eine Tochter, und Esther konnte sich auch nicht vorstellen, dass Mrs. Godstone sie nicht mehr leiden konnte, auch nicht Corbett oder Betsy. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr fürchtete sie sich vor der Vorstellung, nach Starbrough Hall zurückzukehren. Sie hatte niemanden, der über genügend Macht und Einfluss im Haus verfügte, um sie zu unterstützen, und außerdem gab es jetzt auch noch Mr. Trotwood, der tot oder sterbend oben auf der Plattform lag. Es war ein Unfall gewesen, natürlich. Er war ausgerutscht und hatte sich den Schädel aufgeschlagen. Aber für sie beide konnte die Sache schlimm ausgehen, sehr schlimm!
Das andere Mädchen vertilgte die letzten Krümel des Kuchens. Dann schnappte es sich Trotwoods Tasche und durchwühlte die Seitentaschen, fand aber nicht mehr als ein paar schrumpelige Äpfel. Einen reichte sie Esther, in den anderen biss sie geräuschvoll hinein. Fasziniert beobachtete Esther, wie die kleinen weißen Zähne an dem Apfel nagten. Dem Mädchen war das Kopftuch zurückgerutscht. Im Licht der Laterne sah Esther, dass das Haar nahe am Ansatz auf der Kopfhaut heller war, aber aussah, als wäre es mit Schmutz oder Holzteer verschmiert. Rasch zog das Mädchen das Kopftuch wieder nach vorn, als es den neugierigen Blick bemerkte.
Esther fing an, durch den Raum zu marschieren, rieb sich über die Arme, um sich zu wärmen. Die Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf wie die Schneeflocken draußen durch die Luft. Was sollte sie tun? Nirgendwohin konnte sie sich wenden. Die Dienerschaft war nicht in der Lage, ihr zu helfen. Sie dachte an Matt. Nein, sie durfte ihn nicht in Gefahr bringen. Plötzlich traf es sie wie ein Schlag, dass sie wahrhaft mutterseelenallein auf der Welt war.
»Esther«, stieß das Mädchen aus, sagte etwas in ihrer fremden Sprache und zeigte auf die Treppe.
»Willst du, dass ich mit dir komme?«, fragte Esther. Das Mädchen nickte, richtete den Blick dann auf die Pistole und die Apfelkerne.
Esther begriff. Sie legte die Pistole wieder in die Tasche, die sie gegen die Wand lehnte, genauso,
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