Die Karte Des Himmels
konnte.
Sie drehte sich wieder um, spazierte durch den Raum und ließ den Blick über die Bücherregale schweifen. Meistens handelte es sich um Schriften aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, Belletristik, veraltete Nachschlagewerke, Geschichts- und Reisebücher. Obwohl die Auswahl von einem gebildeten Geist zeugte, sah keiner der Bände wertvoll aus. Dann erst ging sie in den hinteren Teil des Raumes, wo sie, eingeschlossen in Vitrinenschränke, die Bücher fand, derentwegen sie gekommen war. Der Schlüssel zu den Vitrinen lag auf dem Regal. Robert Wickham hatte sie zwar aufgefordert, sich wie zu Hause zu fühlen, aber sie empfand es als angemessen, auf ihn zu warten, bevor sie die Werke näher untersuchte. Durch das Glas konnte sie einige Titel in Goldlettern auf dem Ledereinband ausmachen. Complete System of Optics von Robert Smith – wenn es sich um eine Erstausgabe handelte, würde es Leute geben, die allein dafür mehrere Tausender auf den Tisch legen würden. James Fergusons Astronomy Explained mochte auch wertvoll sein, genauso wie das, was nach Flamsteeds berühmtem Atlas Coelestis aussah – wörtlich übersetzt »Atlas der Himmel«. Weiter oben in der Vitrine entdeckte sie Bände, bei denen es sich um eine frühe Ausgabe von Newtons Principia handeln könnte. Sie verspürte einen kleinen Adrenalinstoß. Diese Ausgabe war unglaublich selten. Plötzlich war sie froh, dass sie nach Starbrough Hall gekommen war.
Sie wandte sich um, als die Tür geöffnet wurde. Herein trat eine elegant gekleidete Dame, gefolgt von Robert mit dem Kaffee. »Ms. Gower – Jude«, sagte er und stellte das Tablett auf einen Tisch neben dem Kamin ab. »Das ist meine Mutter, Chantal Wickham.«
Mrs. Wickham kam zu ihr und streckte ihr die zierliche Hand entgegen. »Jude, wenn ich Sie so nennen darf, schön, Sie kennenzulernen.« Als ihre Hände sich berührten und die Blicke sich begegneten, war es so, als springe ein ruhiger, warmer Kraftstrom von der älteren Frau auf die junge Frau über und durchflutete sie. Fast hätte Jude nach Luft geschnappt.
Chantal Wickham war einmal schön gewesen – nein, sie ist immer noch schön, korrigierte sich Jude. Es war schwer zu sagen, ob sie fünfundfünfzig oder siebzig Jahre alt war. Sie war fast so groß wie Jude, ihre Haltung war aufrecht, und das dichte dunkle, von Silber bereifte Haar fiel ihr bis über die Schultern. Mit den hohen Wangenknochen in ihrem breiten, klugen, olivbraunen Gesicht strahlte sie eine natürliche Anmut aus, die mit einem ganzen Schrank voll teurer Designerkleider nicht zu kaufen gewesen wäre. Und doch, obwohl der Abdeckstift sein Bestes tat, waren die tiefen Schatten unter den kastanienbraunen Augen unmöglich zu übersehen. Vor ihr stand eine Frau, die genau wie sie selbst wusste, was es hieß, sich nachts ruhelos in den Kissen zu wälzen und keine Minute Schlaf zu finden.
»Sie sind gekommen, um unsere Schätze zu besichtigen.« Selbst ihre Stimme klang schön, heiser, und hatte einen fremden, leicht singenden Tonfall. Ihre Wortwahl war förmlich. »Ich nehme an, dass Robert Ihnen erzählt hat, wie unendlich traurig wir sind, die Bibliothek verkaufen zu müssen. Aber ganz offensichtlich wird uns das Dach über dem Kopf einstürzen, wenn wir es nicht tun.« Der Kummer hinter ihren Worten war nicht zu überhören.
»Mutter, wir wollen doch nicht schon wieder von vorn anfangen«, mahnte Robert, während er den Kaffee einschenkte.
Jude sank der Mut. Verunsichert blickte sie von der Mutter zum Sohn. Es war unangenehm, wenn einer von beiden eigentlich gar nicht verkaufen wollte. Sie kam sich dann ziemlich raffgierig vor, so als würde sie ihnen das letzte Hemd vom Leib reißen. Und, schlimmer noch, falls die Meinungsverschiedenheit kein Ende nahm, konnte es bedeuten, dass sie mit dem ganzen Besuch ihre Zeit verschwendete. Als Chantal sie anschaute, lenkte sie sofort ein. »Nein, das ist natürlich nicht Ihre Schuld, Jude. Ich bin mir sicher, dass Ihnen die Sammlung zusagen wird. Ihre Arbeit muss wunderbar sein, immer mit all diesen schönen Dingen um sich herum.«
»Ja, ich liebe meine Arbeit sehr«, sagte Jude und hatte das Gefühl, als würde sie auf einem Seil tanzen. »Vielen Dank.« Sie nahm die Tasse, die Robert ihr reichte.
»Jude«, begann Robert, und sein Blick schweifte aus dem Fenster hinaus in die weite Welt, »wäre es in Ordnung, wenn ich Sie heute Vormittag mit meiner Mutter allein lasse? Sie kennt sich mit der Sammlung
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