Die Karte Des Himmels
ich zwanzig war, wurde ich zu ihnen in ihr Strandhaus nach Wells-next-the-Sea geschickt. Meine Cousins waren ein paar Jahre jünger als ich, und ich sollte ein bisschen auf sie aufpassen und gleichzeitig mein Englisch verbessern.«
»Wir sind in den Ferien immer nach Wells gefahren«, erinnerte sich Jude. »Ich liebe diese hübschen kleinen Strandhütten.«
»Heute mag ich sie auch, aber zuerst hat mir Norfolk überhaupt nicht gefallen. Es war so kahl und eintönig, und es schien immer kalt zu sein und ständig zu regnen. Und ich war doch in den vacances an die fröhlichen Farben der Côte d’Azur gewöhnt. Ich bin fast vor Heimweh gestorben, und meine Cousins haben sich die ganze Zeit gezankt. Ungefähr zwei Wochen nach meiner Ankunft bin ich weggelaufen und habe mich in ein Strandcafé gesetzt und geweint. Dort hat William mich gefunden.«
Chantal hielt kurz inne. »Der arme Mann«, fuhr sie dann fort. »Später hat er mir gestanden, dass er an jenem Tag auch sehr unglücklich gewesen war. Er war nach Wells gefahren, und zwar mit einem Mädchen, das er sehr mochte, und einem anderen Mann, seinem Freund. Im Laufe des Vormittags hatte sich dann herausgestellt, dass das Mädchen sich viel mehr zu dem anderen Mann hingezogen fühlte. Also hat er sich entschuldigt und die beiden allein gelassen. Was wirklich ausgesprochen großzügig war. Aber so war er immer. Sehr bescheiden.
Wir haben einen wundervollen Nachmittag miteinander verbracht, und ich war wieder fröhlich, nur weil wir über den Strand spaziert sind und die Stadt besichtigt haben. Anschließend hat er mich nach Hause begleitet, und ich habe ihn Tante Eloise vorgestellt. Die liebe Eloise, ich vermisse sie sehr. Also so hat alles angefangen. Sechsundvierzig Jahre waren wir zusammen, er und ich. Ich weiß, dass wir großes Glück hatten, Jude. Das Glück, dass wir uns zufällig über den Weg gelaufen sind. Das Glück, dass wir so viel Freude miteinander teilen durften.«
Chantal starrte aus dem Fenster und streichelte den kleinen Hund, der neben ihr auf dem Sofa lag. Dann schaute sie Jude an und schenkte ihr ein von Herzen kommendes Lächeln. »Es tut mir leid, dass Sie und Ihr Mann nur so wenig Zeit miteinander hatten. Das Leben kann so ungerecht sein!«
Jude bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Wir waren zwar nur drei Jahre verheiratet, aber wir kannten uns viel länger. Wir sind uns schon in der Schule in Norwich über den Weg gelaufen.«
Chantal nickte. »War es ... haben Sie sich auf den ersten Blick zueinander hingezogen gefühlt?«
»Ja, das haben wir wohl. Ich ganz bestimmt. Später hat er mir mal gesagt, dass er mich auch sehr mochte, es aber nicht gleich gemerkt hat.«
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Robert Wickham trat ein. Er sah die beiden Frauen nebeneinandersitzen, sah Chantal, die gerade Judes Hand hielt, und sagte: »Tut mir leid, wenn ich störe. Man hat mir gesagt, das Mittagessen sei angerichtet.«
»Machen Sie sich bitte keine Gedanken«, sagte Jude und stand auf. »Ich habe Ihrer Mutter nur gerade meine Schätzungen gezeigt.«
»Es handelt sich natürlich nur um Schätzungen«, erklärte sie beim Mittagsessen. »Ich habe ja bereits erwähnt, dass ich noch weitere Erkundigungen einziehen muss. Möglicherweise können wir eine höhere Summe erzielen, besonders mit einer guten Öffentlichkeitsarbeit, mit der man die richtigen Bieter erreicht.« Sie unterhielten sich eine Weile über diesen Aspekt, und Jude erläuterte, wie sie Mailinglisten nutzten und Websites und einen Artikel im Firmenmagazin platzierten, um eine Kampagne in den Medien anzuregen.
Robert war offenbar erfreut über die Zahlen und über Judes Vorschläge und sagte, dass er den Rest des Wochenendes über die Sache nachdenken wolle. Sobald Jude am Montag wieder im Büro wäre, wollten sie sich weiter darüber verständigen.
»Wenn Sie mit meiner Arbeit zufrieden sind und wir ins Geschäft kommen, kann ich mich darum kümmern, dass alles katalogisiert und verpackt wird«, sagte sie. »Wie gesagt, die Instrumente müssen noch durch ein professionelles Auge begutachtet werden. Auch darum will ich mich gern kümmern.«
»Das wäre großartig«, stimmte Robert zu.
»Allerdings gibt es auch etwas, was ich gern sofort mitnehmen würde. Natürlich nur, wenn ich darf. Die Observationstagebücher. Ich habe eine Freundin, eine echte Expertin, die vielleicht Auskunft darüber geben kann, was sie enthalten.«
»Und zweifellos könnte Ihre
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