Die Karte Des Himmels
Freundin auch ein paar Worte über den Wert der Tagebücher verlieren«, fügte Robert hinzu. »Ja, selbstverständlich. Nehmen Sie nur mit, was Sie brauchen. Ich hole etwas heraus, in das Sie die Journale einwickeln können.«
Mit einem zufriedenen Gefühl brach Jude nach dem Mittagessen auf. Wenn dieser Job so ausging, wie sie es erwartete – und schon die Tatsache, dass sie den Karton mit den Observationsjournalen sicher im Kofferraum verstaut hatte, sprach dafür –, würde »Beecham’s« höchst erfreut sein. Und sie konnte sich entspannt darauf konzentrieren, den Hintergrund der Sammlung zu erforschen. Das gehörte zu den Seiten, die sie an ihrer Arbeit am meisten liebte: die Geschichte. Außerdem würde es ihr guttun, Chantal öfter zu sehen. Es tat weh, mit ihr über Mark zu sprechen, aber sie hatte auch das Gefühl, dass Chantal sie so tief verstand wie sonst kaum jemand – noch nicht einmal ihre verwitwete Mutter.
Jetzt, endlich, konnte sie ihre Erinnerungen zulassen.
Jude dachte an die erste Begegnung mit Mark, die inzwischen sechzehn, nein, sogar schon fast siebzehn Jahre zurücklag, am zweiten Tag in der Abschlussklasse der Oberstufe. Aus der Ferne hatte sie ihn schon öfter gesehen – den neuen Jungen, groß, mit angesagten butterblonden Strähnen im Haar und einer Aura selbstbewusster Zufriedenheit.
Sophie und sie trödelten nach der ersten Stunde in Englischer Literatur die Treppe hinunter und verglichen ihre Stundenpläne, um zu sehen, wohin sie als Nächstes gehen mussten. Mark, der aus der anderen Richtung auf sie zusteuerte, war stehen geblieben und betrachtete ein zerknittertes Papier in seiner Hand. Die Mädchen mussten sich dünn machen, um sich an ihm vorbeizuschlängeln.
»Entschuldigung«, sagte er, »wisst ihr vielleicht, wo zweidreiundvierzig ist?«
»Na, genau da geh ich hin«, sagte Jude. »Wahrscheinlich hast du auch gleich Erdkunde.« Sie schaute auf den Gebäudeplan in seiner Hand. »Oh! Du hältst ihn ja verkehrt rum!«
»Wie dumm von mir.« Er drehte den Plan um und lächelte sie verschmitzt an.
Später hatten sie oft ihre Witze darüber gemacht. Mark, der angehende Geografielehrer und Forscher, der noch nicht einmal den Plan eines Schulgebäudes richtig lesen konnte. Sein bester Freund Andy hatte die Geschichte bei ihrer Hochzeit zum Besten gegeben und süffisant darauf angespielt, wer in der Ehe wohl die Hosen anhaben würde.
Damals in der Schule versuchte Jude sich den Gedanken zu verkneifen, dass Marks Augen so blau waren, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatte, und murmelte errötend: »Kann sein. Auf jeden Fall geht es die Treppe rauf. Komm mit, ich zeig’s dir.«
»Viel Spaß«, sagte Sophie grinsend. »Sehen wir uns heute Mittag beim Essen, Jude?« Damit stob sie davon in Richtung Sprachlabor.
Während des gesamten letzten Schuljahrs saßen Jude und Mark in Erdkunde nebeneinander. Sie liehen sich gegenseitig Mitschriften aus, Filzstifte und Taschenrechner. Sie stöhnten, wenn Mr. Bassett ihnen Hausaufgaben aufgab, die unmöglich zu schaffen waren, und saßen nebeneinander im Bus, wenn es zu einer Exkursion ging, bei der sie in Flüssen herumwaten mussten, um die Wasserqualität zu bestimmen. Einmal war ihr Kopf an seine Schulter gesunken, als sie am Ende einer langen Rückfahrt vom Peak District eingeschlafen war, und als sie aufwachte, stellte sie fest, dass er den Arm um sie gelegt hatte. Aber sie vermutete, dass er in ihr vor allem eine Freundin sah. Die Geografie war bestimmt das Einzige, was sie verband. Außerhalb des Unterrichts sahen sie sich kaum. Er war Wissenschaftler; sie hatte sich für Geschichte entschieden und für Englisch als zweites Fach. Sie liebte Lesen und Kreatives Schreiben und spielte Flöte im Schulorchester, er verbrachte die Wochenenden und die Ferien draußen, beim Skifahren oder Bergsteigen im Winter, beim Segeln oder Kajakfahren im Sommer.
Im Juni des vorletzten Schuljahres war sie ihm zufällig bei einer Geburtstagsparty begegnet. Er war in Begleitung eines lebhaften Mädchens mit einer im Fitnessstudio geformten Figur, die er als Tina vorstellte. Jude fühlte sich unsagbar traurig, als sie die beiden bei Lady in Red unter einer kreisenden Discokugel eng umschlungen auf der Tanzfläche sah. Weil sie so allein dastand und an jenem Abend völlig überrumpelt gewesen war, hatte der schüchterne Rick allen Mut zusammengenommen und sie gefragt, ob sie mit ihm tanzen wolle. Wie seltsam die Wege des Schicksals manchmal doch waren!
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