Die Karte Des Himmels
tue ich doch am liebsten«, sagte Jude irritiert. »Ich will verstehen, wie es gewesen ist. Also, wie es wirklich gewesen ist. Ich will mich verwandeln, sozusagen in der Haut anderer Menschen stecken, um zu erfahren, was sie gemacht und gefühlt haben. Ihren Blickwinkel begreifen.«
»Wozu soll das gut sein? Es ist doch die Gegenwart, die zählt. Die heutigen Probleme sind zu lösen.«
»Die Geschichte hilft, die Gegenwart zu verstehen.«
»Du und ich, wir sind so verschieden«, sagte Mark sanft, »aber wir sind immer noch Freunde.« Er zerzauste ihr das Haar. »Du bist etwas ganz Besonderes, weißt du das eigentlich?«
»Du auch«, hauchte Jude und lehnte sich an ihn. Über die Schulter sah sie, dass Rick auf der Suche nach ihr nach draußen gekommen war, und rückte wieder ab. Mark schien es nicht zu stören.
»Ich hoffe, dass wir Freunde bleiben«, sagte er. »Wir sollten uns sehen, wenn wir zu Hause sind.«
»Das wäre schön.«
»Versprochen?«
»Versprochen. Schau mal, ich verspreche es bei diesem Stern da oben. Dem ganz hellen. Dann ist es ewig gültig.«
»Bestimmt ist es ein Satellit. Für die Ewigkeit reicht das nicht.«
»In Ordnung. Dann nehme ich den da drüben.«
Er seufzte spöttisch. »Ja, der muss reichen. Aber ich habe ein Problem mit Versprechen auf einen Stern.«
»Und das wäre?«
»Nun, ihr Licht braucht mehrere tausend Jahre, bis es bei uns ankommt, und es könnte sein, dass wir dann, wenn es so weit ist, gar nicht mehr existieren. Ein Versprechen, das auf einen Stern abgegeben wird, ist also eher kurzlebig.« Er hatte gelacht. Jude nicht. Es hatte sie tief im Innern berührt, was er über ihre Freundschaft gesagt hatte und dass sie etwas ganz Besonderes war. Doch schon ein paar Minuten später schien er es auf die leichte Schulter zu nehmen. Es war verwirrend. Nach jenem Abend hatte es immer einen Teil in ihr gegeben, der auf Mark wartete. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er eines Tages für sie bereit sein würde.
Kurzlebig. Genau das war es dann auch. Irgendwann war der richtige Augenblick gekommen, aber die Zeit, die ihnen vergönnt war, blieb sehr begrenzt. Während ihres Studiums sahen sie sich mehrmals, immer dann, wenn sie sich vorübergehend in Norfolk aufhielten. Mark steckte voller Geschichten über Orte, an denen er gewesen war. Crosslauf in den Apenninen, Bergsteigen in Peru. Einmal an Weihnachten erzählte er, dass er sich einer Expedition in den Himalaja anschließen wolle. Vielleicht versuche ich mich eines Tages am Everest oder am K2, sagte er mit leuchtenden Augen. Niemand konnte ahnen, dass er keine Gelegenheit mehr haben würde, seinen Ehrgeiz zu befriedigen.
Jude schloss das Studium mit Bestnote ab, machte den Magister und ging dann ans University College nach London, um im Rahmen ihrer Doktorarbeit zu Kultur und Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts zu forschen. In dem Sommer, in dem sie ein bezahltes Praktikum bei »Beecham’s« absolvierte, erfuhr sie, dass Mark einen schrecklichen Unfall gehabt hatte.
Zusammen mit einem Freund war er zum Radfahren nach Südamerika gereist. Die beiden waren vornübergeneigt auf einer engen Straße den Berg hinuntergerast und mit einem entgegenkommenden Lastwagen zusammengestoßen. Marks Freund starb, und er selbst erlitt einen Beckenbruch. Der Rettungshubschrauber, der überraschend schnell eintraf, die fähigen Hände eines argentinischen Chirurgen und Marks anschließende Verlegung in eine Klinik nach London verschafften ihm die besten Aussichten auf vollständige Heilung; trotzdem verbrachte er mehrere Wochen im Krankenhausbett und danach Monate auf Krücken. Jude war nicht überrascht, als sie feststellte, dass er sich verändert hatte. Er war ernsthafter geworden. Er fühlte sich schuldig, weil nicht er, sondern sein Freund bei dem Unfall ums Leben gekommen war. Es machte ihn zynisch, sogar verbittert. In der Zeit, in der er im Krankenhaus lag, besuchte Jude ihn beinahe täglich. Mehr und mehr wartete er auf sie und verließ sich darauf, dass sie ihn aus der trüben Stimmung riss. Sie wurden immer vertrauter miteinander, bis sie sich schließlich ineinander verliebten.
»Ich habe immer gewusst, dass du etwas ganz Besonderes bist«, hatte er ihr ins Ohr gemurmelt, in jener Nacht, in der sie seinen Heiratsantrag angenommen hatte. »Gleich, als ich dich das erste Mal sah und du wusstest, wohin ich gehen muss, in welches Klassenzimmer. Du bist mein Leitstern, und das ist der, dem die Seefahrer gefolgt sind, der
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