Die Karte Des Himmels
Das ganze letzte Schuljahr blieb Jude mit dem sanften Rick zusammen, bevor das Schicksal sich erneut einmischte.
Irgendwann kurz vor Weihnachten erzählte eine Klassenkameradin, dass Mark und Tina sich getrennt hätten. Jude dachte nicht weiter darüber nach – es war die Zeit, als sie mehr oder weniger in Rick und seinen sinnlichen Körper verliebt war, in seine langen Wimpern und den schläfrigen Blick wie aus weiter Ferne, wenn er Gitarre spielte.
Jude und Mark tauschten Referate für die Prüfungen in Geografie aus und wünschten sich gegenseitig viel Glück für das Examen. Als sie ihn am ersten Prüfungstag in der ersten Sitzreihe entdeckte und seinen Blick auffing, zwinkerte er ihr zu, bevor er den Kopf senkte, um weiterzuarbeiten. Das Haar fiel ihm in die Stirn. Ohne dass sie es wollte, regte sich irgendetwas in ihr, veränderte sich. Einen Moment lang vergaß sie die Frage, die sie zu beantworten hatte. Von da an verlor Rick mehr und mehr an Anziehungskraft für sie.
Im Juli kam dann der Abschlussball. Es war eine warme, aber regnerische Nacht, sodass die meisten Gäste sich im Festzelt drängten. Natürlich war Jude mit Rick dort, aber gleichzeitig gehörten sie zu einer größeren Gruppe, in der alle miteinander tanzten, lachten, sich unterhielten oder für Fotos Schlange standen. Rick und sie lebten sich auseinander – und wussten es beide. Das war zwar traurig, trieb sie aber nicht zur Verzweiflung. Rick arbeitete in den Ferien als Erntehelfer auf der Obstplantage seines Onkels in Suffolk. Jude würde für vier Wochen in einer Buchhandlung in Norwich arbeiten, bevor sie den Rucksack packen und mit Sophie durch Frankreich und Italien reisen würde. Danach wollten sie, sofern die Examensnoten es zuließen, an Universitäten in entgegengesetzten Teilen des Landes studieren. Beiden war klar, dass sie neue Freunde kennenlernen, sich ihnen neue Horizonte eröffnen und sie eine neue Liebe finden würden. Und sie wollten sich gegenseitig keine Fesseln anlegen.
Rick tanzte gerade mit Sophie zu Oasis, als Mark Jude aufforderte. Nach Oasis kam Blur, und dann legte der DJ Message in a Bottle auf.
»Unmöglich, danach zu tanzen«, schrie Mark ihr ins Ohr, während die anderen lauthals mitgrölten. »Lass uns was trinken.«
Sie gingen mit ihren Bechern nach draußen. Die Regenwolken hatten sich mittlerweile verzogen. Jude, die in ihrem knappen schwarzen Kleid leicht fröstelte, zog die Riemchensandalen aus und tanzte ein bisschen herum, um sich aufzuwärmen. Sie schaute zum Himmel hinauf. Der Mond war zwar bedeckt, aber zwischen den Wolkenfetzen blinkten immer wieder die Sterne auf.
»Ah, Jude. Freiheit! Ich kann es kaum glauben. Endlich diesen Ort hinter sich zu lassen. Ich habe das Gefühl, dass das Leben jetzt erst richtig anfängt.«
»Aber du bist doch nur zwei Jahre hier gewesen«, erinnerte Jude ihn lächelnd.
»Kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Kein Klingeln mehr, keine Schuluniformen, nie wieder Mr. Sanderson ›Sir‹ nennen.«
»Das macht doch sowieso niemand«, sagte sie und lachte bei dem Gedanken, wie sehr sich der freundliche Direktor darüber ärgerte, »aber ich verstehe, was du meinst. Es ist ein fantastisches Gefühl.«
»Da draußen liegt die Welt und wartet darauf, erforscht zu werden. Es gibt Ozeane, die überquert werden wollen, Berge, die man erklimmen muss.«
»In deinem Fall ganz buchstäblich.«
»Ganz genau. Wozu sonst gibt es endlos lange Semesterferien?«
»Äh ... um den Lernstoff durchzuarbeiten? Um Geld für die Miete zu verdienen?«
»Hm, ja, teilweise. Aber ich bekomme sicher ein Stipendium«, sagte er unbestimmt, »und ich schaffe das alles schon. Nach der Uni will ich Erdkunde unterrichten. Dann bleiben mir diese endlos langen Ferien.«
»Hört sich ganz so an, als wärst du zum Lehrer berufen, nicht wahr?«, sagte sie spöttisch.
»Ja, das bin ich auch«, erwiderte er schlicht. Sie musterte ihn neugierig und stellte fest, dass er es ernst meinte. »Ich beschäftige mich leidenschaftlich gern mit solchen Sachen. Außerdem brauchen wir gute Lehrer. Menschen, die Kinder begeistern. Und genau das kann ich.«
Sie glaubte ihm aufs Wort.
»Vermutlich wirst du auch als Lehrerin enden, wenn du Geschichte studierst.«
»Nicht unbedingt. Es gibt viele Berufe, in denen allgemein ein geisteswissenschaftlicher Abschluss verlangt wird. Das sagte jedenfalls Miss Eldrigde.«
»Pass bloß auf, dass du dich nicht in der Vergangenheit verlierst«, warnte Mark.
»Aber genau das
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