Die Karte Des Himmels
Stelle und klappte das Journal zu, den Kopf voll von Esthers Stimme. Es hörte sich so an, als wäre Anthony Wickham wirklich ein faszinierender Mann gewesen – einsam oder jedenfalls doch allein, aber zärtlich und freundlich und eindeutig mit einer leidenschaftlichen Besessenheit für die Sterne. Sie fragte sich, ob er nicht doch Esthers leiblicher Vater war – irgendwie ließen Esthers Worte über ihn nicht auf einen ausgemachten Schürzenjäger schließen, der die Frucht einer heimlichen Liebe versteckte. Und wenn er nicht ihr Vater war – wo und unter welchen Umständen war er an das Kind gekommen?
17. Kapitel
»Der Mond ist so rund wie die Uhr auf dem Flur.« Die Zeile eines Kindergedichts schoss Jude durch den Kopf, als sie am nächsten Tag darauf wartete, dass Claire einen Kunden zu Ende bediente. Sie wollten zu Mittag essen, bevor sie zusammen ihre Großmutter in Blakeney besuchten. Jude musterte die Uhr an der hinteren Wand im »Star Bureau«. Sie war wie ein großer Vollmond gestaltet, mit winzigen, schweineähnlichen Zügen, in denen sich ein spöttisches Erstaunen spiegelte. Der Mond starrte auf das halbe Dutzend Kunden hinunter, als wollte er sagen: »Mal ehrlich, was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid?« Es wirkte lebendig, witzig, und obwohl manche Kunden die Uhr haben wollten, war sie unverkäuflich. Während sie die Monduhr betrachtete, konnte Jude ihre Schwester aus den Augenwinkeln beobachten.
Jude hatte nur selten die Gelegenheit, den Laden aufzusuchen. Aber wenn sie es tat, dann genoss sie es, in diese Fundgrube von Schätzen rund um die Sternenwelt einzutauchen. Das fing bei zarten silbrigen Mobiles des Sonnensystems an, ging über kitschige T-Shirts von Leinwandstars bis hin zu Plastikspielzeug für die Hosentasche. Sie staunte immer noch, und sie empfand dabei auch ein großes Vergnügen, wenn sie Claire in ihrem beruflichen Umfeld sah – tüchtig und erfolgreich statt nervös und anstrengend. Gerade erklärte sie einer jungen Frau in Minikleid und Leggings ruhig und ernst, warum es eine wunderbare Sache war, einem Stern am Himmel einen Namen zu geben. »Es ist ein zauberhaftes Symbol Ihrer Liebe zu einem Menschen, den Sie ganz besonders ins Herz geschlossen haben. Ich habe es für meine Tochter getan, für meine Mum und für meine Gran. Sie waren alle sehr berührt.« Claire glaubte eindeutig jedes Wort, das sie sagte. Aber für mich hat sie es nicht getan, dachte Jude, für mich hat Claire noch keinem Stern meinen Namen gegeben. Und dieser düstere Gedanke machte den Abstand zwischen ihnen wieder größer.
Jude hatte ihre Schwester sehr gern, daran gab es keinen Zweifel, und sie nahm an, dass Claire dasselbe für sie empfand. Aber nie gelang es ihr, das Gefühl ganz abzuschütteln, dass Claire innerlich verbittert war. Es war mehr, viel mehr als nur die schlichte biologische Tatsache, dass sie mit ihrer Geburt vor vierunddreißig Jahren die kleine Prinzessin Claire von ihrem Thron gestoßen hatte. Es ging um mehr als um geschwisterliche Rivalität, die sich um das Lob und die Anerkennung ihrer Eltern drehte. Außerdem hatte Claire sich immer geweigert, in dieses besondere Spiel einzusteigen. Teils musste es an ihrer Behinderung liegen, aber da ihr schlimmes Bein ihr immer mehr Aufmerksamkeit und elterliche Sorge eingebracht hatte als ihrer jüngeren Schwester, hätte eigentlich eher Jude verbittert sein sollen. Hier ging es noch um etwas anderes, doch Jude hatte es nie herausfinden können. Sie wandte sich ab, griff wie abwesend nach einer zarten Porzellanschale, auf der Vincent van Goghs berühmtes Gemälde des Straßencafés bei Nacht abgebildet war. Ihr fiel ein, dass sie ein Geschenk für Suris Geburtstag in einer Woche kaufen sollte. Aber nicht das hier. Sie schaute sich um. Eine Kette mit Sternenlichtern? Nein, zu weihnachtlich. Ihr Blick fiel auf einen silbernen Armreif – genau die Art von Schmuck, die Suri trug. Auf ihrer bräunlichen Haut würde der Armreif sehr schön aussehen. Sie schaute auf das Preisschild und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Claire, während sie ihr Portemonnaie aus der Handtasche zog.
»Hier haben wir noch eine wunderschöne Geschenkbox«, erklärte Claire dem Mädchen, »mit einem einzigartigen Zertifikat.«
»Oh, das ist wirklich sehr sinnreich geschrieben«, rief das Mädchen. »Ist das von Ihnen?«
»Ja, der persönliche Ton ist wichtig«, sagte Claire, die sich in ihrer Jugend selbst Kalligrafie beigebracht hatte. »Hier wird der
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