Die Karte Des Himmels
Verlangen.
»Oh, darf ich vorher mal hindurchsehen?«, platzte ich heraus, hatte jegliche Schüchternheit vergessen.
Er musterte mich, wieder mit dieser Verwirrung, zuckte dann mit den Schultern und sagte: »Warum nicht?« Ich musste auf seinem Schemel stehen, während er mich an der Taille festhielt. Als ich mein Auge an das Glas führte, war zunächst alles verschwommen, aber dann muss mein Geist den Kniff verstanden haben, denn ich erkannte einen hellen Fleck bläulichen Lichts. Das trauliche Angesicht eines Sterns. Der Schrei drang mir unwillkürlich aus der Kehle.
»Was siehst du?«, fragte mein Vater und hielt das Teleskop genau an die Stelle, auf die ich geblickt hatte. »Vega«, murmelte er, »einer der hellsten Sterne am Himmel. Er ist Teil der Lyra.«
»Die magische Lyra des Orpheus«, stieß ich atemlos hervor. »Miss Greengage hat uns die Geschichte von Orpheus in der Unterwelt vorgelesen, von der Suche nach seiner geliebten Eurydike.«
»Du kennst die Geschichte?« Er war erstaunt.
Ich nickte. »Die Lyra war ein Geschenk seines Vaters Apoll, und Orpheus’ Spiel bezauberte Menschen und Tiere gleichermaßen.«
Aus irgendeinem Grund amüsierte das meinen Vater. Er rückte das Teleskop zurecht. »Dort«, sagte er und zeigte zum Himmel, »eine Linie aus vier Sternen, links eine Linie aus sechs. Dazwischen ein Feld von vieren. Siehst du es?«
»Ich glaube ja.« Er bat mich, noch einmal durch das Teleskop zu schauen, um den Nebel im Herkules zu erkennen.
»Herkules. Kennst du die Geschichte von Herkules?«
Nein, ich kannte sie nicht. In den vergangenen Monaten hatte die Mutter unserer Miss Greengage diese gedrängt, uns aus der Bibel vorzulesen. Ich wusste über Noah Bescheid und über seine große Arche und Hiob, der von Schwären bedeckt war. Ich fragte: »Gibt es am Himmel auch eine Arche Noah?«
Er sah überrascht aus, spürte aber die Ernsthaftigkeit meiner Frage und sagte: »Nein, die Namen der Sterne sind viel älter als Noah. Herkules der Starke ist zu Ehren seiner zwölf Arbeiten von seinem Vater Jupiter an den Himmel gesetzt worden.« Er zog den leinernen Baldachin über den Rahmen, baute sein Fernglas auseinander und begann, seine Gerätschaften einzusammeln. »Nimm du bitte das Tagebuch«, bat er mich. Ich presste es mit dem freien Arm an meine Brust, während ich die Sprossen hinter ihm hinunterstieg. Ich half ihm, die Instrumente seiner Studien auf dem Tisch im Turmzimmer auszubreiten. Dann löschte er das Licht der einen Laterne und hob die zweite an, um uns den Weg die Treppe hinunter und nach draußen zu weisen.
»Sie nennen dich Esther, wie ich es angeordnet habe?«, fragte er, während er den großen eisernen Schlüssel in der Tür herumdrehte.
»Manchmal Essie, Sir«, sagte ich.
»Ich ziehe Esther vor. Nach meiner Mutter«, sagte er. »Außerdem war es der Name einer schönen jüdischen Königin.«
Ich schwor mir, nie mehr bloß Essie zu sein, sondern nur noch Esther.
Zusammen durchquerten wir den Wald. Trotz der Dunkelheit war er sich seines Weges sehr sicher. In seiner Gegenwart verspürte ich nicht mehr den Hauch meiner früheren Ängste, aber als wir endlich den Park erreichten, fror ich, war hungrig und erschöpft. Als er das Tor schloss, schwankte ich vor Schwäche. »Hier«, sagte er und bot mir einen starken Trank aus einem Flakon an, aber ich hustete und spuckte ihn aus. Also hob er mich hoch und trug mich auf seinen Armen nach Hause. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Als ich wieder erwachte, lag ich in meinem eigenen Bett, die Sonne schien durch die geöffneten Vorhänge, und Susan starrte besorgt auf mich hinunter. »Du bist schon angezogen«, stellte sie fest. »Warum bist du denn wieder ins Bett gegangen? Tut dir was weh?« Ich klärte sie nicht über ihren Irrtum auf und schlief den ganzen Morgen hindurch.
Den Rest des Tages lief ich wie benommen umher. Ein Teil von mir befürchtete, dass die letzte Nacht ein Traum gewesen war. »Vega«, flüsterte ich mir selbst zu, »Lyra. Herkules.« Diese Namen waren sehr wirklich, und an ihnen klammerte ich mich fest.
An jenem Nachmittag hielt ich Ausschau nach Matt, fand aber nur Sam, der die niedrigen Hecken im Kräutergarten stutzte. »Mam konnte ihn heute Morgen gar nicht wach bekommen. Sie meint, dass er sich erkältet hat.« Ich hoffte inständig, dass es ihm bald besser gehen möge. Immerhin wusste ich nun, dass er sicher zu Hause angekommen war.
Jude hatte das Ende dieses Kapitels erreicht, markierte die
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