Die Karte Des Himmels
Bemerkung gerade eben.«
»Ich wusste nicht, dass sie den Turm überhaupt kennt. Vielleicht war sie irgendwann mal mit Gran dort. Warum war sie wohl so ängstlich?«
»Keine Ahnung. Vielleicht ist es wie mit Summer. Sie fand ihn ... gespenstisch. Es gibt merkwürdige Geschichten über ihn. Obwohl Mum sich von solchem Zeug eigentlich nicht beeindrucken lässt, oder?«
Jude dachte nach, ob das stimmte. Nein, Valerie konnte sehr nüchtern und sachlich sein. Sie war nicht religiös, und sie lachte über Menschen, die wegen zerbrochener Spiegel und schwarzer Katzen Kopfschmerzen bekamen. »Sie mag Horoskope«, sagte sie, als sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter immer das Horoskop für Jungfrau im Lokalblättchen las und sich die Voraussagen gern so zurechtbog, dass sie auf ihre Situation zutrafen: »Gute Neuigkeiten im Beruf« musste nicht unbedingt heißen, dass ihr das Gehalt in der Arztpraxis, in der sie am Empfang arbeitete, erhöht wurde oder dass eine Beförderung anstand. Es konnte auch bedeuten, dass der mürrischste Arzt in der Praxis zur Abwechslung mal lächelte oder dass eine der Krankenschwestern einen Schokoladenkuchen zum Geburtstag mitbrachte. Aber an Gespenster oder seltsame Schwingungen glaubte sie eigentlich nicht.
»Und was will Gran am Sonntag mit dir besprechen?«, fragte Claire.
Jude legte das Messer hin und griff nach ihrer Handtasche. Sie zog ein kleines Paket aus und wickelte es aus.
»Das hier hat sie mir gegeben.«
Sogar zusammengerollt sah die Halskette noch schön aus. Claire berührte den Schmuck nicht. Sie gab sich auch keine Mühe, ihre Überraschung zu verbergen und dann ihre Eifersucht.
»Claire, sie hat mir die Kette nicht wirklich geschenkt«, sagte Jude eilig. »Ich soll nur darauf aufpassen. Sie möchte, dass ich die Person ausfindig mache, der sie gehört.«
»Die Person? Wer soll das sein?«
»Ich bin genauso verwundert wie du. Ein Mädchen, das heute natürlich eine alte Frau wäre, namens Tamsin Lovall. Schau mich nicht so an. Ich bin sicher, Gran hat mich gefragt, weil sie weiß, dass ich mich mit Recherchen auskenne.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht, Jude. Ich versuch nur, es zu begreifen. Keine von uns wusste von dieser Kette. Gran ist manchmal ein stilles Wasser.«
»Das stimmt. Sie muss sie seit über siebzig Jahren gehabt haben. Und soweit wir wissen, hat sie nie ein Wort darüber verloren.«
»Glaubst du, dass Mum davon weiß?« Endlich nahm Claire die Kette und hielt sie hoch. Sofort entdeckte sie die beschädigte Stelle. »Wirklich ein Jammer, dass sie nicht mehr heil ist.«
Jude zuckte mit den Schultern. »Wenn ich daran denke, wie Mum und Gran so sind, gehe ich jede Wette ein, dass sie nicht Bescheid weiß. Wann haben sie sich je über so was Heikles unterhalten?«
»Und wo willst du anfangen? Diese Tamsin zu suchen, meinte ich.«
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Hast du eine Idee?«
»Du könntest in den Telefonbüchern nach Lovalls suchen.«
»Ja. Aber ich wette, dass es jede Menge von ihnen gibt. Und es könnte gut sein, dass sie gar nicht mehr Lovall heißt.«
Später, als sie bei ihrer Großmutter waren, gab Jude Summer das Buch, das sie gekauft hatte.
Summer quetschte sich auf das Sofa zwischen Jude und ihre Mutter und blätterte die Seiten um. »Gefällt es dir?«, fragte Jude.
»Mm«, machte Summer und nickte. »Kannst du mir das hier vorlesen? Aschenputtel ?«
Jude las vor, und alle hörten zu. Die Geschichte war wunderbar erzählt. Danach wollte Summer von Schneewittchen hören.
»Du hattest recht, Jude«, sagte Claire, als das Märchen zu Ende war. »Das neue Buch gefällt dir, nicht wahr, mein Schatz?«
»Noch eine Geschichte«, bettelte Summer, »bitte, bitte!«
»Aber nur noch eine«, sagte Jude. »Welche willst du hören?«
Summer blätterte durch die Seiten bis zu einem Bild mit zwei pausbäckigen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, die sich unter einem Baum zum Schlafen aneinandergekuschelt hatten. »Die zwei Kindlein im Wald«, sagte sie entschieden.
»Oh, nein, nicht die!«, rief Claire plötzlich. »Sie ist so traurig.«
»Ja, ziemlich«, sagte Jude.
»Aber ich will es«, befahl Summer, und Jude begann zu lesen, nachdem sie Claire einen besorgten Blick zugeworfen hatte.
»Es war einmal ein Mann, dessen Frau gestorben war. Die Frau hatte ihm zwei wunderschöne kleine Kindlein hinterlassen, einen Jungen und ein Mädchen. Traurigerweise wurde der Mann krank, und er wusste, dass er bald sterben
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