Die Karte Des Himmels
oder kleine Geschenke. Nur alberne kleine Sachen wie Kuchenstückchen oder Blumen. Einmal hat sie etwas für mich versteckt, was einer ihrer Onkel gemacht hatte: zwei kleine Holzpüppchen, die so zusammengebunden waren, dass es aussah, als würden sie miteinander ringen, wenn man an den Schnüren zog. Manchmal war es so, wisst ihr, dass sie nicht in der Schule auftauchte oder dass ihre Familie beschlossen hatte, weiterzuziehen, und dann bin ich hochgestiegen, um nachzusehen, ob sie etwas für mich hinterlassen hatte.«
Jude fand das bezaubernd, und Claire sagte: »Was für eine schöne Idee.«
»Ich weiß nicht mehr, wann wir das Versteck das erste Mal für die Kette benutzt haben. Nicht lange darauf. Tamsin wollte erst nicht, aber ich habe sie überredet. Sie willigte ein, dass ich die Halskette mit nach Hause nahm. Meiner Ma habe ich sie nicht gezeigt – sie hätte darauf bestanden, dass ich sie sofort zurückgebe. Ich hab zu Tamsin gesagt, dass ich die Kette in das Versteck lege, falls wir uns am nächsten Tag nicht sehen. Und das habe ich auch getan. Natürlich, wenn ich jetzt daran zurückdenke, war das alles ziemlich dumm. Jeder, der wusste, wo er zu suchen hatte, hätte die Kette leicht finden können. Aber damals schien es so romantisch, und ich hatte Flausen im Kopf, wie es bei jungen Mädchen nun mal so ist.«
»Wie alt warst du da, Gran?«, fragte Claire.
»Oh, ich glaube, als wir das Versteck entdeckt haben, war ich zehn oder elf.«
Nach dem Tee schlief Gran in ihrem Sessel ein, während Jude mit Claire Arm in Arm nach Blakeney Point spazierte und Summer vor ihnen hertanzte. Die Luft war funkelnd und wie verzaubert. Im Sommer hat das Licht in den Marschlanden eine ganz besondere Qualität, dachte Jude. Kein Wind wehte, kein Lüftchen regte sich, und zusammen mit Grans Erzählungen versetzte diese Reglosigkeit sie in eine seltsame, sehnsuchtsvolle Stimmung.
Sie standen auf einer kleinen Landzunge und schauten hinüber zu dem einsamen letzten Haus draußen auf der Halbinsel und lauschten dem verzückten Gesang der Feldlerchen, die zu weit oben waren, um sie noch sehen zu können. Hier an dieser Stelle und genau in diesem Moment hatte Jude das Gefühl, ihrer Schwester nahe zu sein, konnte vergessen, dass Claire gesagt hatte: »Jude ist nicht meine Freundin, sondern meine Schwester.« Doch dieser Augenblick war nur allzu rasch verflogen.
Als sie zu Grans kleinem Haus zurückgekehrt waren, gab Judes Handy den Ton für eine SMS von sich. Summer war als Erste bei der Handtasche ihrer Tante.
»Von Euan«, rief sie und reichte Jude das Handy, die schnell das Display überflog.
»Es geht ums Sternegucken«, erklärte sie Claire und sah, wie ihr schmales Gesicht einen verbitterten Ausdruck annahm. »Er sagt, heute Abend wäre es gut. Ich muss ihn um Mitternacht treffen. Ich wünschte, du könntest mitkommen.«
»Nun, das geht ja wohl schlecht, oder?«, fuhr Claire sie an und schaute zu Summer. Es war, als ob ein kleiner Riss zwischen den Schwestern sich zu einem riesigen Spalt geöffnet hätte.
18. Kapitel
Jude war böse auf Claire und redete sich ein, dass die Beobachtung des Sternenhimmels vom Starbrough Folly aus für ihre Recherchen wichtig wäre. Sie beschloss, hinzugehen, wobei ihr die Entscheidung nicht besonders schwerfiel. Sie brannte schon darauf, Euan wiederzusehen.
Es war ein paar Minuten nach Mitternacht, als sie aus den Bäumen nahe dem Turm auftauchte. Ein Dreiviertelmond zog am Himmel auf, das fehlende Stück sah aus wie eine gespenstische Zeichnung. Jude war zu spät dran, weil sie sich in Euans neues Buch vertieft hatte. Deshalb hatte sie das Auto nehmen müssen, statt zu Fuß zu gehen. Und als sie am Weg ausgestiegen war, hatte ihre Taschenlampe den Geist aufgegeben.
Eine große Gestalt trat aus dem Schatten am Turm. Ihr Herz bebte einen Moment lang, dann sagte eine vertraute Stimme: »Jude, ich hatte mir schon Sorgen gemacht, dass Sie sich verlaufen hätten.«
»Tut mir leid. Hätte ich auch fast. Meine blöde Taschenlampe.«
Er ließ ihr an der Tür den Vortritt und tauchte die Treppenstufen in das rote Licht seiner eigenen Taschenlampe. »Rotes Licht ist besser, wenn man die Sterne beobachten will«, erklärte er, während sie nach oben stiegen. »Es stört unsere Nachtsicht nicht.«
Im Licht der Taschenlampe und mit Euan schützend hinter sich kletterte Jude die Stufen diesmal viel sicherer hinauf. Es kam ihr nicht lange vor, bis sie das kleine Turmzimmer erreicht hatten.
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