Die Karte Des Himmels
man essen darf und welche Kräuter eine gute Medizin ergeben. Als ich einmal schwer erkältet war, hat Nadya versucht, mir ihr Gebräu einzuflößen, aber es hat seltsam gerochen, und ich wollte es nicht trinken. Ich fürchte, Tamsin fand mich unhöflich. Manchmal kamen wir nicht miteinander zurecht, weil unsere Lebensweisen so verschieden waren. Aber die meiste Zeit haben wir wunderbar zusammen gespielt. Sie war so zierlich und so hübsch, und sie hat so interessante Dinge gesagt.«
»Was hat sie denn gesagt, Gran?«, wollte Summer wissen. Claire lehnte mit verschränkten Armen in der Küchentür und wartete darauf, dass das Wasser kochte.
»Nun, einmal hat sie mir erzählt, dass sie drei verschiedene Namen hätte. Tamsin sei nur ihr öffentlicher Name. Sie wollte mir nicht verraten, mit welchem Namen ihre Familie sie rief, obwohl ich gebeten und gebettelt habe, und ihren dritten Namen kannte nicht einmal sie selbst. Dieser Name sei ihr bei ihrer Geburt zugeflüstert worden, sagte sie, und wenn sie eines Tages erwachsen sei, würde sie ihn schon herausfinden.«
»Aber ich habe auch drei Namen«, triumphierte Summer, »Summer Claire Keating. Meine Freundin Darcey hat vier.«
»In der Schule hat Tamsin wohl Tamsin Lovall geheißen«, sagte Jude lächelnd. »Ich nehme also an, dass sie auch vier Namen hatte. »Gran, ist Tamsin gern zur Schule gegangen? Oder haben die Behörden sie gezwungen?«
»Nadya wollte, dass Tamsin ihre Chance bekommt. Das war jedenfalls mein Eindruck, denn sie selbst konnte weder lesen noch schreiben. Aber sie war sehr stolz darauf, dass Tamsin es konnte. Ich musste Tamsin bei den Hausaufgaben helfen, wenn sie etwas nicht verstanden hatte, denn ihre Familie war dazu nicht in der Lage. Unser Haus hat sie nie betreten, obwohl ich sie eingeladen habe. Und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass Ma dagegen gewesen wäre. Unsere Ma war nicht so, aber ein paar Frauen aus dem Dorf. Es gab einen schrecklichen Spruch, den die Kinder Tamsin hinterherriefen: ›Wäsche von der Leine und Hühner in den Stall, die Zigeuner kommen.‹ Natürlich haben die Lehrer geschimpft, wenn sie das hörten, aber man kann Kindern schließlich nicht den Mund verbieten.«
Summer schaute von ihrem Buch auf. »Das hört sich wirklich schlimm an. Ich würde so was nie sagen.«
»Trotzdem wollte ich nicht, dass man sieht, wie ich mit Tamsin in der Schule spiele. Auf keinen Fall«, fuhr Gran fort. »Das war nicht besonders mutig, stimmt’s?«
»Nein«, sagte Summer ein wenig unsicher.
»Sie konnten so grausam sein, die anderen Kinder! Ganz besonders ein Junge ...« Gran fummelte an ihrem Hörgerät herum, das einen warnenden Pfeifton von sich gab.
»Wer war das, Gran?«, drängte Jude.
»Verflixtes Ding. Wer? Ach, das ist nicht wichtig.«
Jude spürte, dass es sehr wohl wichtig sein konnte, bat dann aber taktvoll: »Erzähl mir mehr über die Halskette. Wo hatte Tamsin sie aufbewahrt?«
»Ach, das ist nun wieder interessant. In der Schule hätte sie sie natürlich niemals getragen. Aber ein oder zwei Mal habe ich sie damit im Lager gesehen. Es war wie mit ihrer Urgroßmutter und den Ohrringen. Wenn man seine Wertsachen am Leib trägt, können sie nicht verloren gehen.«
»Nein, das können sie wohl nicht«, sagte Jude. Am Ende war aber genau das mit Tamsins Halskette geschehen. Jessie hatte sie gestohlen. Als sie das schuldbewusste Gesicht ihrer Großmutter sah, wusste sie, dass diese dasselbe gedacht hatte.
»Ich habe diese Kette geliebt. Manchmal durfte ich sie mir umlegen, weißt du, und wir hatten ausgemacht, dass diejenige, die sie trug, die Prinzessin war und an jenem Tag bestimmen durfte, was wir spielten. Einmal war ich an der Reihe, und ich sagte, dass ich zum Turm hinaufgehen wolle. Wir Kinder haben oft in der Nähe des Starbrough Folly gespielt. Unser Dad hatte es uns verboten, aber manchmal haben wir uns doch getraut.«
Es entstand eine kleine Pause, als Claire das Teetablett und gekauften Kuchen hereinbrachte.
»Danke, meine Liebe. Eigentlich haben wir den Turm nicht besonders gemocht. Es war dort feucht und schrecklich finster.« Sie schaute zu, wie Summer das Papier von dem Kuchen wickelte, und fuhr fort. »An jenem Tag sind Tamsin und ich jedenfalls in das Zimmer hinaufgeklettert und haben dort gespielt, irgendeinen Unsinn mit Märchen, und dabei hat Tamsin das kleine Versteck gefunden, hinter einem lockeren Ziegelstein. Das haben wir dann manchmal benutzt, um Botschaften füreinander reinzulegen
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