Die Karte Des Himmels
aufmerksamer und sachlicher Beobachter war. Man bekommt wirklich einen Eindruck, wie sich die wissenschaftlichen Methoden entwickelt haben.«
»Das klingt ermutigend«, erwiderte Jude zweifelnd.
»Aber was echte Entdeckungen betrifft, also die ›Story‹, nach der du suchst, um den Verkauf anzuheizen, da bin ich mir nicht so sicher. Bestimmt hat er eine Anzahl sogenannter Doppelsterne identifiziert, aber das hört sich nicht besonders aufregend an, oder? Ich glaube, dass es viel interessanter ist, was passiert, als seine Tochter Esther übernimmt. Ihr Bericht ist zwar auch sorgfältig, aber viel einfühlsamer und leidenschaftlicher. Wenn sie über den Himmel spricht, dann über ein ›Meer an Sternen‹. Das ist ein zauberhaftes Bild, findest du nicht? Und hier schreibt sie, Moment mal, ich muss kurz suchen ... dass sie sich fühlt wie ›eine Reisende unter ihnen‹. Man bekommt wirklich ein Gespür für sie. Und hör dir das mal an, sie spricht über ein Objekt, das sie in der Nähe der Gemini-Konstellation beobachtet hat. ›Heute Nacht ist es wieder da. Bei Vergrößerung 460 kann ich sehen, dass es keinen Schweif hat. Also muss ich die Beobachtung meines Vaters infrage stellen. Es ist kein Komet. Ich habe ernstlich den Eindruck, dass es sich um etwas Neues handelt.‹«
»Ja, die Stelle habe ich auch gelesen. Was ist es?«
»Ich hab eine Vermutung. Und wenn ich recht habe, dann wäre es wirklich erstaunlich. Aber ich muss erst bis zu Ende lesen und noch andere Dinge herausfinden, bevor ich irgendwas dazu sage. Und das kann noch ein paar Tage dauern. Danny ist für eine Woche in Boston, und dann haben wir uns einen kleinen Trip nach Paris versprochen.«
Jude war enttäuscht, brachte aber genug Sympathie auf, um ein »Ihr Glücklichen!« über die Lippen zu bringen und es auch so zu meinen. Paris ließ sie wieder an Caspar denken, aber sie verspürte nicht den geringsten Anflug von Bedauern. Es war merkwürdig, dass die paar Monate mit ihm schon eine Ewigkeit zurückzuliegen schienen.
Jude bedankte sich bei Cecelia und verabschiedete sich.
Ihre Begeisterung war neu aufgeflammt, als sie sich Esthers Schrift wieder zuwandte. Rasch nahm die Stimme des jungen Mädchens sie gefangen.
Es war kurz vor Weihnachten Anno Domini 1772. An einem frostigen Nachmittag amüsierte ich mich beim Spiel mit der Puppenstube in meinem Zimmer und schaute aus dem Fenster, als ich das Geräusch von Hufen hörte. Ich sah eine Kutsche und ein Zweiergespann über die Auffahrt rasen, und der Atem der Pferde waberte durch die eisige Luft. Der Wagen fuhr vor dem Haus vor, und ein Jüngling sprang herunter, um die Pferde zu beruhigen. Der Kutscher half zuerst einer großen hageren Lady mit Federhut herunter, dann einem dürren Jungen, der vielleicht ein oder zwei Jahre älter war als ich mit meinen zehn Sommern. Die Lady starrte auf das Haus, als ob sie es auf seine Mangelhaftigkeit inspizieren wollte. Ich, so schien es, gehörte dazu. Einen Moment lang war ihre Miene weicher geworden, so als ob etwas in den sanften Fluchten des Sandsteins sie milde gestimmt hätte; aber dann begegnete ihr Basiliskenauge meinem neugierigen Blick durch die Scheibe, und ihr gesamter Körper versteifte sich. Ich zuckte zusammen wie vom Schlag getroffen und trat zur Seite. Als ich wieder hinschaute, hatte sie ihre Röcke gerafft, marschierte auf die Treppe zu und zerrte den Jungen hinter sich her.
Plötzlich hörte ich, wie unten der gesamte Haushalt in Aufruhr geriet. Mrs. Godstone kreischte nach Susan; der Butler Mr. Corbett herrschte einen Lakaien an: »Bringen Sie auf der Stelle das Gepäck herein, wird’s bald?« Ich schlich mich aus dem Kinderzimmer zu meinem Versteck in der Nähe des oberen Treppenabsatzes, listig wie eine Kakerlake und zweifellos ebenso willkommen. Unten flogen Türen auf und wurden wieder zugeschlagen, Nagelschuhe knallten auf den Marmorboden, und eine weibliche Stimme schnarrte durch die marmorne Vorhalle: »Sie bringen mich jetzt sofort zu meinem Bruder. Und feuern Sie den Kamin in dem üblichen Zimmer an, verstanden?« Die Schwester meines Vaters war eingetroffen.
Natürlich hatte sie uns auch früher schon besucht, war aber selten länger als ein oder zwei Tage geblieben. Bei dieser Gelegenheit brachte Alicia Pilkington, die zweite Ehefrau des Junkers Adolphus Pilkington, eines Gutsherrn aus Lincolnshire, ihren dürren elfjährigen Sohn Augustus mit, den sie in der Öffentlichkeit als Erben meines Vaters bezeichnete. Sie
Weitere Kostenlose Bücher