Die Karte Des Himmels
verlassen.
In jenem Herbst sah ich das Zigeunermädchen noch zwei Mal. Das erste Mal gleich in der folgenden Woche, als es in der Nähe von Starbrough Folly Feuerholz sammelte und mir schüchtern zuwinkte. Aber als ich mit ihr sprechen wollte, verschwand sie wie ein Kitz in den Schatten. Das zweite Mal war ich in der Abenddämmerung in das Turmzimmer hinaufgeklettert, weil ich nach etwas suchte. Meine Haut prickelte, ich fuhr herum und sah sie hinter mir stehen. »Wie bist du ...?«, begann ich, hielt aber inne, als ich bemerkte, wie sie sich im Raum umschaute. Angst und Neugier spiegelten sich auf ihrem Gesicht.
»Bist du früher schon mal hier gewesen?«, fragte ich sie, wusste aber auf Anhieb, dass dies höchst unwahrscheinlich war, da mein Vater den Turm verschlossen hielt. Sie schüttelte den Kopf und ahmte nach, dass sie geschlagen wurde. »Es ist dir verboten?«, riet ich, und sie nickte.
»Wir kommen hierher, um die Sterne zu beobachten«, erläuterte ich und zeigte ihr eine der Karten meines Vaters. Sie riss die Augen auf und bewegte ihren Finger über die Karte, als ob diese eine geheimnisvolle Bedeutung für sie besäße. Ich versuchte, sie zu bewegen, die Leiter hinaufzuklettern, aber sie schüttelte nur den Kopf und lächelte, bevor sie sich über die Treppe nach unten zurückzog. Ich blieb im Zimmer, starrte auf die Karte und fragte mich, was sie dort wohl gesehen haben mochte.
Ein oder zwei Tage später kam Mr. Trotwood, der Verwalter meines Vaters, zu seinem Master und überbrachte ihm mit grässlicher Zufriedenheit die Nachricht, dass die Zigeuner weitergezogen waren. Das bedeutete, dass er irgendwie die Finger im Spiel hatte. Ich war wütend auf ihn. Der Gedanke stimmte mich traurig, dass ich das Mädchen nicht wiedersehen würde, und soweit ich es beurteilen konnte, hatten wir mit diesen Leuten keinen Ärger gehabt. Es schien mir, als bestünde ihre Sünde einzig darin, anders zu sein als wir.
Jude tippte zu Ende, las dann den gesamten Abschnitt noch einmal durch und ließ Esthers helle und klare Stimme in ihrem Geist erklingen. Die Herkunft dieser Frau lag immer noch im Dunkeln. Aber Alicia hatte eine Erklärung vorgeschlagen: Esthers Mutter sei zu arm gewesen, sich um sie zu kümmern, und sie sei der »Bastard eines armen Hungerleiders«. Allerdings ergab das überhaupt keinen Sinn. Jedenfalls nicht, wenn sie tatsächlich seidene Lumpen am Leib getragen hatte. Aber warum Lumpen? Warum hatte sie Lumpen getragen, wenn sie wirklich wohlgeboren war? Hatte ihre Mutter sie wirklich ausgesetzt – oder irgendein tragisches Schicksal erlitten? Und dennoch hatte Susan sie gut erzogen. Das Mädchen schien sehr selbstsicher zu sein, treu verbunden jenen Menschen, die sie liebte. Wer sich ihr zum Feind erklärte, wie Alicia es getan hatte, gegen den konnte sie sich heftig verteidigen. Die Beziehung zu dem Mann, den sie »Vater« nannte, war ergreifend. Es schien, als würde er sein junges Mündel mehr und mehr zu schätzen lernen, sogar eine Art väterlicher Zuneigung zu ihr entwickeln. Vielleicht lag es an der Seelenverwandtschaft – daran, dass ihre Leidenschaft ebenfalls den Sternen galt.
Jude betrachtete das Porträt über dem Kamin. Wenn Anthony, wie Chantal sagte, zweiundzwanzig gewesen war, als das Bild 1745 gemalt wurde, dann muss er zweiundvierzig gewesen sein, als Esther 1765 nach Starbrough Hall kam, also ein kinderloser Junggeselle mittleren Alters. Aber die freundliche Weisheit in seinem Gesicht und das Buch in der Hand als Hinweis auf seine Gelehrsamkeit vermittelten einen starken Eindruck seiner Persönlichkeit. Esther zufolge war er ein wunderbarer Lehrer und leidenschaftlich darauf bedacht, sie zu seiner Assistentin zu machen, und das zu einer Zeit, in der viele andere sie wegen ihres Geschlechts und ihrer nebulösen Herkunft abgelehnt hätten. Obwohl man sie als Esther Wickham kannte, schien das Mädchen zu dieser Zeit rechtlich gesehen gar nicht zu existieren, sie war ein Kind ohne Namen. Und bis dieser Bericht aus der verstaubten Rückseite des Schrankes aufgetaucht war, war Esther Wickham auch für die Geschichte verloren gewesen. Judes Wunsch, das Rätsel zu lösen, wurde immer stärker.
Sie hatte versucht, Esthers Rechtschreibung beizubehalten, hatte eckige Klammern gesetzt, wenn sie das Gefühl hatte, dass ein Wort für den modernen Leser noch geklärt werden musste, und sie überprüfte den Text zweimal auf Tippfehler. Dann schickte sie den Abschnitt per E-Mail an Cecelia,
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