Die Kastratin
Vincenzo öffnete die Haustür und ließ Giulia in das Treppenhaus eintreten. Nach der gleißenden Helligkeit des sonnigen Morgens war es hier fast stockdunkel. Es dauerte ein wenig, bis ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Einen Schritt weiter, und sie wäre über die ersten Stufen der Treppe gestolpert. Sie sah zweifelnd die steile Stiege hoch, die in einem konturlosen Nichts verschwand, und drehte sich zu Vincenzo um. »Wie hoch müssen wir?«
»In den vierten Stock. Steigst du als Erster hoch, oder lässt du mich vorgehen?«
»Geh voraus. Dann kann ich mich an dir festhalten, wenn ich auf einem dieser ausgetretenen Bretter ins Straucheln komme.«
Giulia trat beiseite, um ihn vorbeizulassen, doch es war so eng, dass er sich an ihr vorbeidrängen musste. Als er sie streifte, liefen ungewohnte Schauer durch ihren Körper und lösten Schwindelgefühle in ihr aus. Schmerzhaft wurde ihr klar, dass sie in Gefahr geriet, schwach zu werden und sich zu verraten. Wenn sie nicht alles aufs Spiel setzen wollte, was sie sich mühsam aufgebaut hatte, würde sie sich ab jetzt mehr denn je im Zaum halten müssen.
Zum Glück forderte das Treppensteigen in fast völliger Dunkelheit ihre ganze Konzentration, so dass sie sich wieder fassen konnte. Als sie oben waren, klopfte Vincenzo an eine Tür. Diese wurde sofort geöffnet, und eine Frau im einfachen Hauskleid und mit durch ein Kopftuch gebändigten Haaren steckte den Kopf heraus. »Endlich seid Ihr da, Messer de la Torre. Kommt herein! Mein Mann wartet schon voller Sehnsucht auf Euch.«
Vincenzo neigte höflich den Kopf und wies dann auf Giulia. »Darf ich Euch meinen Freund Giulio Casamonte vorstellen? Er ist ein begnadeter Sänger.«
»Ich habe ihn letzten Sonntag in Santa Maria Maggiore gehört, Vincenzo«, dröhnte in dem Moment eine volle Männerstimme auf. »Du hast nicht zu viel versprochen. Tretet ein, ihr Beiden, und nehmt Platz. Ihr habt doch sicher nichts gegen einen Becher Wein und frische Pfirsichküchlein. Meine Frau backt gerade welche. Aber sie werden ihr verbrennen, wenn ihr sie aufhaltet.«
»Was, meine Kuchen verbrennen?« Die Frau eilte erschrocken in die Wohnung zurück und überließ es Vincenzo, die Tür hinter sich und Giulia zu schließen. Galilei winkte sie in seine winzige Studierstube. Ehe er ihnen die Hand reichte, schob er seine speckige Kappe in den Nacken und strich den abgeschabten, braunen Hausrock glatt. »Willkommen in meiner bescheidenen Behausung, Messer Casamonte. Mein Freund und Namensvetter Vincenzo hat Euch in den höchsten Tönen gelobt. Ich hielt seine Worte zunächst für gewaltige Aufschneiderei, doch seit ich Euch am Sonntag singen gehört habe, weiß ich, dass er nicht übertrieben hat.« Giulia erwiderte den festen Händedruck und setzte sich auf eine Truhe, die zwar nicht besonders stabil aussah, unter ihrem Gewicht jedoch nicht einmal knarzte.
Vincenzo nahm auf einem dreibeinigen Hocker Platz, streckte die Beine mit einem zufriedenen Seufzer zur Tür hinaus und fragte Galilei nach seiner neuesten Komposition.
Der Musiklehrer zwinkerte ihm zu und kramte ein Bündel mit vielfach ausgebesserten Notenblättern hervor. »Sie ist fast fertig. Ich bin nur noch nicht dazu gekommen, sie ins Reine zu schreiben.«
Giulia warf einen neugierigen Blick auf das oberste Blatt und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Die Melodie war mehr als ungewöhnlich. Sie summte einige Takte vor sich hin, wie sie es immer machte, wenn sie eine fremde Komposition vor sich liegen hatte. Der Text behandelte ein frommes Thema, und doch war es ein sehr fröhliches Lied. Einen größeren Gegensatz zu der getragenen Erhabenheit, die die Werke Palestrinas auszeichneten, konnte sie sich kaum vorstellen. Das mochte einer der Gründe sein, warum es ihr so ausnehmend gut gefiel. Außerdem war das Lied für eine Solostimme mit Lautenbegleitung geschrieben. Sie nahm Galilei die restlichen Blätter aus der Hand und ging sie durch. »Dies würde ich gerne einmal singen.«
Aus Galileis Gesicht wich die Spannung. Er lächelte beinahe übermütig und nahm seine Laute zur Hand, um ihr die ersten Akkorde vorzuspielen. Er war ein außergewöhnlich guter Lautenspieler und unzweifelhaft Vincenzos Lehrer. Giulia nickte ihrem selbstzufrieden grinsenden Begleiter anerkennend zu. »Jetzt weiß ich, warum du so gut Laute spielst.«
Vincenzo lächelte geschmeichelt, und Galilei erzählte einige Begebenheiten aus der Zeit, in der Vincenzo de la Torre sein
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