Die Kastratin
Schüler gewesen war. Der stritt natürlich die meisten der Streiche, die er seinem Meister und anderen Leuten gespielt haben sollte, vehement ab oder schrieb sie anderen Studenten zu. Giulia war jedoch klar, dass Vincenzo ein arg lockerer Vogel gewesen sein musste. Sie verspottete ihn wegen seiner jetzigen Anständigkeit und rief bei Galilei einen Lachsturm hervor. »Sag bloß, du bist ein braver Bürger geworden, Vincenzo. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Ich hätte eher geglaubt, deine Familie müsse dich mit irgendeinem Hausdrachen von Weib vermählen, um dich endlich zu zähmen. Aber anscheinend ist dein heißes Blut mittlerweile erkaltet.«
Vincenzo setzte eine gespielt beleidigte Miene auf. »Ich war niemals so schlimm, wie man es mir nachsagt. Aber wenn man allein ist und keinen Soldo in der Tasche hat, kann man leicht Torheiten begehen, die sich erübrigen, sobald man in bessere Verhältnisse kommt.«
Galilei gluckste vor Lachen. »Du redest ja wie ein Pfeffersack, der sich in der Mitte seines Lebens an seine Jugendzeit erinnert und dabei die Sünden vergessen machen will, die er damals begangen hat.« Offensichtlich nahm er seinem Gast nicht ab, ein ehrbarer Bürger geworden zu sein. Bevor Vincenzo jedoch zu einer Gegenrede ansetzen konnte, erschien Galileis Frau und stellte einen großen Teller Pfirsichküchlein auf den wackligen Tisch. Galilei stand auf, öffnete eine winzige Eckvitrine und brachte einen Krug Wein zum Vorschein.
Die Küchlein schmeckten ausgezeichnet. Daher bat Giulia die Frau ihres Gastgebers um das Rezept. Sie war sich sicher, dass Assumpta sie ebenfalls backen konnte. Die Hausherrin zierte sich etwas, da sie die Bitte eines Herrn zunächst nicht ernst nehmen mochte. Da Vincenzo Giulia jedoch unterstützte, gab sie schließlich nach. Während Galilei ein Blatt Papier suchte, um das Rezept aufschreiben zu können, drang das durchdringende Weinen eines Kindes aus dem Nebenzimmer.
Galilei seufzte. »Mein kleiner Sohn Galileo ist krank. Wenn er wach ist, weint er ständig. Die Hebamme meint, er täte sich beim Zahnen schwer, und hat uns einen Kräuterabsud gebraut, aber den spuckt er immer wieder aus. Wir haben schon einen Doktor geholt. Doch ob man das tut oder sein Geld gleich in den nächsten Brunnen wirft, bleibt sich gleich. Der gelehrte Herr hat sich meinen Sohn noch nicht einmal richtig angesehen. Wegen eines kleinen Kindes geben sich die Herren keine Mühe. Ja, wenn es ein Bastard Seiner Heiligkeit wäre …«
»Vincenzo, versündige dich nicht.« Seine Frau legte ihm mahnend die Hand auf den Arm, bevor sie ins Nebenzimmer eilte. Der Kleine hörte jedoch nicht auf zu weinen. Zuletzt trug die Mutter das Kind durch die Wohnung, schaukelte es und sang ihm leise ein Wiegenlied vor. Für einen Augenblick wurde das Kind ruhig, um dann nur noch lauter zu greinen.
Schließlich suchte Vincenzo genervt Giulias Blick. »Kannst du ihn denn nicht in den Schlaf singen? Bei der Gräfinwitwe von Falena hattest du doch auch immer Erfolg.«
Galileis Frau hielt Giulia das jammernde Bündel hin. »Oh, ja! Bitte, versucht es. Ich weiß mir keinen Rat mehr.«
Giulia nahm den Jungen vorsichtig auf den Arm und blickte in ein zartes, vom Weinen gerötetes Gesichtchen und auf winzige Hände, die sich zu niedlichen Fäusten geballt hatten und ziellos durch die Luft irrten. Auf einmal spürte sie ein wehes Gefühl im Herzen. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wäre sie wahrscheinlich selbst schon Mutter. Das war eines der Dinge, auf die sie verzichten musste, seit ihr Vater und Pater Lorenzo sie gezwungen hatten, als Knabe aufzutreten.
Galilei bemerkte, wie sich Giulias Miene verdüsterte. »Verzeiht meinem Weib, dass sie Euch das Kind aufgedrängt hat. Sie wollte Euch nicht kränken. Aber sie dachte nicht daran, wie schwer es für Euch sein muss, als Verschnittener an Ehe und Kinder erinnert zu werden.«
Er wollte Giulia das Kind wieder abnehmen, doch diese wandte sich rasch ab und hielt den Knaben fest. Leise, um den Säugling nicht zu erschrecken, begann sie zu singen. Ihr kamen die Lieder aus ihrer Kinderzeit wieder in den Sinn, und wie von selbst perlten die Melodien über ihre Lippen.
Der kleine Galileo beruhigte sich und blickte Giulia mit großen Augen an. Ein paarmal gluckste er vor Freude und schloss schließlich die Augen. Giulia sang, bis das Kind fest eingeschlafen war. Dann gab sie es fast widerwillig an seine Mutter zurück. »Was? Er schläft? Das grenzt ja an ein Wunder. Eure
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