Die Kastratin
gewechselt, dass sie sich die Namen der Orte kaum hatte merken können. Die Gegend um Saletto aber hatte er gemieden wie der Teufel das Weihwasser, und ihre flehentlichen Bitten, wenigstens einmal das Grab ihrer Mutter besuchen zu dürfen, waren unbeachtet verhallt.
Giulia wusste selbst heute noch nicht zu sagen, ob ihr Vater bereits an jenem letzten Abend in Saletto den für sie so fatalen Entschluss gefasst hatte oder ob ihm die Idee erst später gekommen war. Er hatte zwar immer wieder davon gesprochen, sich einen neuen Gönner zu suchen, der ihn als Kapellmeister einstellen würde, sich in Wahrheit jedoch nie ernsthaft darum bemüht. Wenn sie ihn darauf angesprochen und ihn gebeten hatte, ihnen endlich wieder ein richtiges Zuhause zu verschaffen, hatte er behauptet, dazu fehlten ihm die notwendigen Zeugnisse und Empfehlungsschreiben. Oft war er mit Beppo, der seit den Ereignissen in Saletto völlig in sich gekehrt war, auf Reisen gegangen und hatte sie und Assumpta in irgendeiner schäbigen Herberge zurückgelassen.
Wenn er von einer dieser Reisen zurückkehrte, brachte er stets eine Reihe neuer Lieder für sie mit und achtete streng darauf, dass sie sie singen lernte. Im Lauf der Jahre hatte er ihr Talent geschult und sie so gründlich ausgebildet, wie er es vermochte. Nun sollten die Mühen der letzten Jahre seiner Meinung nach endlich Früchte tragen. Dazu musste noch ein einziges Hindernis überwunden werden, welches Giulia jedoch unüberwindbar erschien. Gleich würde der Schwindel entdeckt werden, und dann …
Giulia wagte nicht, an die Folgen einer Entdeckung zu denken, die ihr Vater unnötigerweise immer wieder ausgemalt hatte. Die Angst saß ihr wie ein dicker Knoten im Bauch, und ihre Augen waren so verschleiert, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Als sie stolperte, packte ihr Vater sie am Arm, bewahrte sie davor, die Treppe hinabzustürzen, und funkelte sie zornig an. »Reiß dich zusammen, Giulio!« Seine Stimme klang leise, aber sehr scharf. »Denke daran, was Assumpta auf meine Anordnung mit dir gemacht hat. Also sei ganz vorsichtig. Wenn das Ding abfällt oder zerbricht, ehe wir die Begutachtung hinter uns haben, brennen wir beide. Hast du mich verstanden?«
Sie biss sich auf die Lippen, um kein böses Wort darüber schlüpfen zu lassen. Seit ihrer Flucht war der Name Giulia kein einziges Mal mehr über seine Lippen gekommen. Er nannte sie stets Giulio und schien vergessen zu haben, dass ihm je eine Tochter geboren worden war. Was Assumptas Werk betraf, konnte Giulia kaum an etwas anderes denken. Die Dienerin hatte ihr nämlich mit Harz einen winzigen Penis aus Wachs an die bei einem Jungen vorgesehene Stelle geklebt. Es ziepte bei jedem Schritt und war so störend, dass sie kaum richtig gehen konnte. Alles in ihr schrie danach, ihren Vater anzuflehen, sein Vorhaben fahren zu lassen, doch ihr Mund blieb verschlossen. Jedes Wort wäre sinnlos gewesen. So folgte sie ihrem Vater bis unter das Dach, wo unter der Schräge eine kleine Tür zum Vorschein kam.
Fassi klopfte daran, zuerst eher verhalten, und als sich nicht sofort etwas tat, um einiges fester, bis eine mürrische Stimme ihnen antwortete. »Ja, ja, ich komm ja schon!«
Kurz darauf wurde die Tür geöffnet, und ein alter, hagerer Mann in einer Priestersoutane steckte den Kopf heraus.
Girolamo Fassi verbeugte sich schwungvoll. »Guten Tag, Hochwürden. Mein Name ist Girolamo Casamonte. Ich habe mein Erscheinen angekündigt.«
Giulia verzog das Gesicht, als sie den falschen Namen hörte. Irgendwie war mit dem Namenswechsel, den ihr Vater mit Hilfe gefälschter Papiere vorgenommen hatte, die letzte Verbindung zu ihrer Kindheit in Saletto zerschnitten worden. Sie fand, ihr Vater hätte besser einige Empfehlungsschreiben für sich fälschen sollen, um eine Stellung zu erhalten. Doch alles, was sie dazu gesagt hatte, war von ihrem Vater mit Vorwürfen, Klagen oder Spott zurückgewiesen worden.
Sie folgte ihrem Vater und dem Priester in den unbehaglichsten Raum, den sie je betreten hatte. Innen war es so dunkel, dass man kaum das Gesicht seines Gegenübers erkennen konnte, geschweige denn die spärliche Möblierung, die sich nur durch noch dunklere Schattierungen in der vorherrschenden Finsternis verriet. Ein winziges Fenster in der Dachschräge ließ kaum Licht herein. Darunter stand ein Tisch mit einem Stuhl, dem bereits ein Bein fehlte, und daneben an der glatten Wand standen ein paar Bücher auf einem primitiv geschreinerten Bord.
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