Die Kastratin
Blick zu. »In Mantua ist es uns kein einziges Mal passiert, dass einem Zimmermädchen das Trinkgeld zu üppig gewesen wäre.«
Giulia nickte fröhlich und folgte Risa, die das Geldstück in der verkrampften Hand festhielt, um es ja nicht zu verlieren. Als Giulia die Gemächer der Gräfinwitwe betrat, saß diese dick eingehüllt auf einer gepolsterten Bank in der Fensternische und blickte aufs Land hinaus. Sofort aber drehte sie sich um, begrüßte Giulia beinahe fröhlich und fragte sie, wie sie denn mit Pater Franco ausgekommen wäre. »Danke, ausgezeichnet«, antwortete Giulia. »Er ist ein wundervoller Musiker und wohl auch ein lieber, guter Mensch.«
»Er ist tatsächlich ein lieber Kerl. Ich bin froh, ihn in meinen Diensten zu wissen. Er wäre in einem Kloster niemals glücklich geworden, denn er ist kein Mann der Askese und auch nicht streng genug, um widerspenstige Ketzer zu bekehren oder gar zu bestrafen.« Sie atmete kurz durch und blickte wieder sinnend auf das Land, das im Schein der tief stehenden Sonne grün und freundlich glänzte. »Singe mir eines der Lieder vor, die Pater Franco dir heute Morgen beigebracht hat«, forderte sie Giulia nach einer Weile auf.
Giulia nahm ihre gewohnte Pose ein, lachte dann aber über sich selbst. Da ihre Auftraggeberin sie ja nicht ansah, konnte sie sich entspannt an der Wand abstützen. Sie ging kurz die Lieder durch, die sie von Pater Franco gelernt hatte, und entschied sich für eines, das den Sonnenschein und das klare Wasser eines Gebirgsbachs lebendig beschrieb.
Die Gräfinwitwe lauschte ihr sichtlich ergriffen und klatschte anschließend wie ein kleines Kind in die Hände. »So wunderschön habe ich dieses Lied noch nie gehört. Es macht einem direkt Lust, im Freien spazieren zu gehen.«
»Ich würde mich freuen, es tun zu können. Schließlich habe ich bisher nur die Burg gesehen«, erwiderte Giulia mit einem sehnsüchtigen Blick durch das Fenster. Eine halbe Stunde später bedauerte sie, diese Worte so leichtfertig ausgesprochen zu haben. Die Gräfin war nämlich von der Idee angetan und machte sich mit ihr und der Kammerfrau auf den Weg.
Als sie durch das Dorf gingen, eilten alle Leute herbei, um ihrer Herrin die Reverenz zu erweisen. Ihre Augen fraßen sich jedoch an Giulia fest, so als hätte sie zwei Köpfe oder mindestens einen Riesenbuckel, und jedermann schien einen mehr oder weniger leisen Kommentar abgeben zu müssen. Wie es sich anhörte, hatte keiner von ihnen jemals einen Kastraten gesehen, aber sie hatten viel und vor allem nichts Gutes über Nichtmänner gehört. »Zauberstimme« war noch die höflichste Bezeichnung, die Giulia vernahm. Einige Männer wichen sichtlich vor ihr zurück und machten das Zeichen gegen den bösen Blick, als fürchteten sie, ihre Manneskraft allein durch ihren Anblick zu verlieren. Zum Glück war niemand, auch die kleinen Kinder nicht, so frech, sie zu berühren oder ihr gar zwischen die Beine zu fassen, was den Worten einer jungen Frau zufolge ein unzweifelhaftes Mittel sei, einer ungewollten Schwangerschaft zu entgehen. Giulia war zuletzt froh, wieder in die Burg zurückkehren zu dürfen.
An diesem Abend erlaubte ihr die Gräfinwitwe, das Essen in ihrer Gegenwart einzunehmen. Da auch Pater Franco mit am Tisch saß, kam keine Langeweile auf. Giulia wurde sich irgendwann einmal bewusst, dass sie schon seit langem nicht mehr so herzhaft gelacht hatte wie in dieser Stunde. Die Beklemmung, die sich während des Spaziergangs auf ihre Seele gelegt hatte, verflüchtigte sich bald, und sie ertappte sich zuletzt dabei, wie sie einige bekannte Lieder in spöttischer Weise parodierte. Anstatt sie dafür zu schelten, klatschte der Pater begeistert Beifall und forderte sie schließlich auf, mit ihm im Duett zu singen. Sie machte begeistert mit und war zuletzt nicht nur selbst froh und glücklich, sondern ließ, als sie sich zurückzog, eine sehr zufriedene Gräfinwitwe zurück.
VIII .
N achdem Giulia die anfänglichen Schwierigkeiten mit Glück und Geschick hatte meistern können, lebte sie sich rasch in der Burg ein. Die Gräfinwitwe behandelte sie mehr wie einen guten Freund als wie einen angestellten Sänger, die Mamsell verhätschelte sie, und die Dienerschaft las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Zwei-, dreimal nur traf sie ihre Auftraggeberin in trüber Stimmung an. Doch es bedurfte stets lediglich einiger ihrer Lieder und dazu ein paar Späße des Paters, um die düsteren Wolken zu verjagen.
Als das Weihnachtsfest
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