Die Kastratin
Freiheit gewinnst. Alt genug dürftest du ja bald sein.«
Giulia kniff bedrückt die Lippen zusammen. Wäre sie tatsächlich ein Kastrat, so hätte sie sich irgendwann von ihrem Vater lösen können. Doch wie die Dinge standen, war es ihr praktisch unmöglich. Sie war durch das Geheimnis ihres Andersseins wie mit eisernen Ketten an ihn geschmiedet. Um sich nicht in traurigen Gedanken zu verlieren und damit vielleicht sogar die Gräfinwitwe anzustecken, bat sie Pater Franco um die Noten des nächsten Liedes und sang es mit der Eindringlichkeit, die das Leid sie gelehrt hatte.
Die Sorge um die Burgherrin ließ Giulia nicht die Zeit, sich weiter mit ihrem Vater zu beschäftigen. Sie widmete jede wache Minute ihrer Aufgabe und sah sich schließlich durch die freudestrahlenden Gesichter der Menschen ringsum belohnt. Als die Diener den großen Saal der Burg mit frischem Grün für das Weihnachtsfest schmückten und in der Küche die Leckerbissen für das Mahl zubereitet wurden, war für jeden zu erkennen, dass die Gräfinwitwe heuer an der Feier teilnehmen konnte. Viele dankbare Blicke streiften Giulia, und am Morgen des Festes brachte ihr die Mamsell höchstpersönlich den ersten Teller mit gewürztem Gebäck und forderte sie auf, die Leckereien zu probieren. »Schmeckt es?«, fragte sie beinahe ängstlich.
Giulia nickte eifrig. »Ausgezeichnet. So gute Pasticcini habe ich noch niemals gegessen.«
Das Gesicht der Mamsell glänzte bei diesem Lob, und sie fasste kurz nach Giulias Hand. »Ich danke Euch, Casamonte. Ihr habt uns eine gesegnete Festa di Natale beschert. Wir sind alle sehr glücklich, dass Erlaucht daran teilnehmen kann.«
»Wenn Ihr jemand danken wollt, so dankt Gott«, versuchte Giulia das in ihren Augen übertriebene Lob abzuwehren. Sie fragte die Mamsell, ob sie noch ein paar Plätzchen vom Teller nehmen dürfe. Doch diese stellte ihr den Teller auf den Tisch. »Sie sind alle für Euch. Wenn Ihr wollt, kann Risa Euch noch welche bringen.«
Giulia blickte seufzend an sich herab und deutete auf ihre Taille. »Lieber nicht. Ich gehe sonst auf wie ein Hefekuchen, und das ist das Letzte, was ich will.«
»Ein paar Pfunde könnt Ihr schon noch vertragen.« Die Mamsell nickte ihr auffordernd zu und verabschiedete sich hastig, da genug andere Arbeit auf sie wartete.
Giulia nahm noch ein Plätzchen von der Sorte, die ihr besonders gut geschmeckt hatte, und legte sich angezogen aufs Bett. Sie wollte ihren Geist noch einmal von allen störenden Gedanken reinigen und die Lieder durchgehen, die sie am Abend beim Fest singen wollte. Darüber musste sie eingeschlafen sein, denn sie wurde durch Assumptas Klopfen geweckt. Als sie die Tür öffnete, blickte die Dienerin vorwurfsvoll auf ihr verknittertes Hemd und die verknautschten Hosen. »Giulio! Was habt Ihr gemacht? So könnt Ihr doch nicht zum Fest gehen. Wartet, ich lege Euch etwas anderes heraus.« Assumpta schloss seufzend die Tür und legte den Riegel vor, ehe sie in der Truhe kramte.
Giulia schlüpfte unterdessen aus ihrem verdrückten Gewand und ließ sich von der Magd in die frischen Kleider helfen. Heute hatte sie Assumptas Willen nach besonders prächtig auszusehen. Daher suchte diese das grüngold gemusterte Wams heraus, mit dem Giulia vor Herzog Guglielmo aufgetreten war, und legte eine enge, karmesinrote Hose dazu. Dann half sie ihr, die neuen Brustbänder anzulegen. Nachdem Giulia vollständig angezogen war, ging Assumpta mit nachdenklicher Miene um sie herum, öffnete in einem plötzlichen Entschluss ihre Hose und stopfte die Schamkapsel besser aus. »Ich habe gehört, dass Kastraten hier immer etwas übertreiben. Ihr solltet Euch nicht ausschließen, sonst schöpft doch einmal jemand Verdacht.«
»Ich versuche, nächstens daran zu denken.« Giulia blickte auf die prall sitzende Hose herab und schüttelte den Kopf. »Wenn man das so sieht, könnte einem als Frau fast Angst davor werden, was die Männer da aufzuweisen haben.«
Assumpta winkte verächtlich ab. »Pah, das ist doch zum größten Teil Watte und nur zum geringen Teil Fleisch.« Sie schwieg für einen Moment und sah dann Giulia mit feuchten Augen an. »Ich wünsche dir so sehr, dass du eines Tages einen Mann kennen lernst, mit dem du deiner Natur gemäß leben kannst.«
Giulia schüttelte mit einem gekünstelten Lachen den Kopf. »Ich weiß gar nicht, wie ich mich als Frau verhalten müsste. Ich habe es nie gelernt.« In den letzten Monaten hatte sie sich zwar mehrmals vorgestellt,
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