Die Kastratin
musterte die Gräfin, wohl um ihre Befindlichkeit festzustellen, und winkte dann eine Magd herbei, die ein Tablett mit dem Frühstück für ihre Herrin brachte. Während die Gräfinwitwe in warme Milch getunktes Weißbrot zu sich nahm, sah sie Giulia bittend an. »Singt noch einmal jene Weisen, die mich gestern in Morpheus’ Arme trugen. Ich werde Euch später mit Pater Franco, meinem Beichtvater, Musiker und Leibkomponisten in einer Person, bekannt machen, damit er Euch die Lieder nennen kann, die ich besonders gerne höre.«
»Es wird mir eine Ehre sein«, erwiderte Giulia und begann mit glockenheller Stimme zu singen. Sie wiederholte die Lieder, die sie in der Nacht gesungen hatte, und erntete dafür viel Lob von ihrer Auftraggeberin. »Mit Euch habe ich einen Glücksgriff getan, Casamonte. Ich bin Herzog Guglielmo sehr dankbar, dass er mich Euch hören ließ.«
»Ihr habt eine goldene Kehle«, mischte sich jetzt eine sympathische Männerstimme ein. »Ein voller Mezzosopran. Eine etwas ungewöhnliche Stimmlage für einen Kastraten.« Giulia wappnete sich. Hatte da jemand Verdacht geschöpft? Verunsichert drehte sie sich um und sah einen alten Mönch in grauer Kutte vor sich, der lautlos eingetreten war. Sein verknittertes Gesicht trug fröhliche Lachfalten, und sein stattlicher Bauch zeigte deutlich, dass er die Freuden der Tafel nicht verschmähte. Der Mann lächelte sie an und reichte ihr die Hand. »Ich bin Pater Franco, der Prediger und Musicista Ihrer Erlaucht. Ich muss sagen, Gott hat Eure Stimme gesegnet, mein Sohn.«
»Man nennt mich Giulio Casamonte, den Kastratensänger.« Giulia ließ offen, ob sie nun einen Künstlernamen trug oder ihren eigenen. »Leider war ich gestern unterwegs, so dass ich Euch nicht willkommen heißen konnte. Doch Risa berichtete mir bei meiner Rückkehr, dass Ihr ein Wunder vollbracht haben sollt.« In Pater Francos Stimme schwang Neugier mit. »Ja, das ist wahr«, erklärte die Gräfinwitwe mit Nachdruck. »Es ist Casa-monte gelungen, mich trotz meiner quälenden Migräne wie ein kleines Kind in den Schlaf zu singen.«
»Das habe ich nicht gemeint. Risa sagte, dass die Kammerfrau und die Mamsell nachher ausnahmsweise derselben Meinung waren und den jungen Sänger lobten. So etwas ist hier bei Gott bisher noch nicht vorgekommen.« Er brachte seine Worte in derart komischem Ernst vor, dass die Gräfinwitwe hell auflachte. »Dann hat Casamonte zwei Wunder erreicht, obwohl das eigentlich Eure Aufgabe wäre. Schließlich steht Ihr als Mann Gottes dem Himmel doch näher als gewöhnliche Sterbliche wie wir.«
»Gott tut seine Wunder durch die, die er dafür bestimmt, und nicht durch jene, die sich dafür bestimmen.« Pater Franco hob belehrend den Zeigerfinger und streckte anschließend Giulia die Hand entgegen. »Herzlich willkommen, mein Sohn. Ich freue mich sehr, dass Ihr den Weg hierher gefunden habt. Für mich allein war die Aufgabe, Erlaucht aufzuheitern, doch zu schwer, obwohl ich mir gewiss alle Mühe gegeben habe.«
Giulia gefiel der Mönch. Sie erwiderte seinen Händedruck und lächelte ihm zu. »Ich hoffe, dass es uns gemeinsam gelingt. Denn ohne Eure Hilfe kann wiederum ich nichts bewirken.«
Die Gräfinwitwe schüttelte lachend den Kopf. »Casamonte, Ihr seid entweder sehr höflich oder sehr gerissen. Lasst Euch von diesem jungen Burschen nicht um den Finger wickeln, Pater Franco. Ich habe nie eine eindringlichere Stimme gehört als die seine. Wäre er ein Mann, würden die jungen Frauen vor ihm dahinschmelzen.«
Noch während sie es sagte, erlosch ihr Lächeln, und sie ergriff Giulias Hand. »Verzeiht meine unbedachten Worte, Casamonte. Ich wollte Euch weder kränken noch Euch wehtun.«
»Ihr habt mir nicht wehgetan«, antwortete Giulia mit freundlicher Miene.
»Trotzdem sollte man die Worte abwägen, die man sagt. Die meisten Schmerzen fügt man anderen nicht mit Absicht, sondern durch Unachtsamkeit und Gleichgültigkeit zu.« Die Gräfinwitwe schien für einen Augenblick in fernen Zeiten zu weilen, in denen ihr auf diese Weise Kummer bereitet worden war.
Pater Franco schien diese Stimmungswechsel zu kennen, denn er tippte Giulia an und bat sie, ihm zu folgen. »Erlaucht wünscht, jetzt allein zu sein. Wir sollten uns inzwischen etwas besser bekannt machen.«
»Darf ich Euch bitten, mir die Lieder zu nennen, welche Erlaucht am liebsten hört?«, fragte Giulia leise, um die Gräfinwitwe nicht in ihren Gedanken zu stören. »Gerne.« Pater Franco führte sie
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