Die Kastratin
konnte, erschreckte der drohende Unterton ihren Vater.
Girolamo Casamonte hatte gehofft, den für ihn ebenso unbefriedigenden wie unerfreulichen Zwischenfall am Weihnachtsabend einfach vergessen machen zu können. Jetzt musste er sich eingestehen, dass seine Tochter immer noch daran dachte und seitdem in ihm einen Feind sah. Diese Entwicklung verletzte ihn mehr, als er zugeben wollte. Er gab sich diesen Gefühlen jedoch nicht lange hin, sondern schweifte mit seinen Gedanken weit voraus. Dank der Freizügigkeit der Gräfinwitwe war seine Börse gut gefüllt, und er freute sich schon darauf, in Modena die besten Kurtisanen aufzusuchen, um den ebenso langen wie kalten und einsamen Winter zu vergessen.
Während ihr Vater seinen Hoffnungen und Träumen nachhing, sah Giulia auf das grüne, blühende Land hinaus, durch das ihre Kutsche rumpelte, und fühlte sich auf einmal wie von allen Zwängen befreit. Paolo Gonzaga und ihr Vater hatten ihr deutlich gezeigt, dass Männer brünstige Böcke oder Bullen waren, die vor keiner Schandtat zurückschreckten, um ihren Trieb zu befriedigen. Als Kastrat hatte sie solche Übergriffe nicht zu befürchten. Sie glaubte auch nicht, dass ihr Vater es noch einmal bei ihr versuchen würde, denn jetzt kam er ja wieder in eine Stadt und konnte die Häuser der käuflichen Frauen besuchen, bei denen er vergessen würde, dass er je eine Tochter sein Eigen genannt hatte.
Um ihre nahe Zukunft brauchte Giulia sich keine Sorgen zu machen, denn die Gräfinwitwe hatte sie mit mehreren Empfehlungsschreiben für Bekannte in Modena ausgestattet. Sie wollte in diesem Sommer noch einmal in einer Residenzstadt auftreten, um genügend Geld für ihre weitere Ausbildung zusammenzubringen. Vielleicht würde sie den Winter über auch wieder in die Dienste der Gräfinwitwe zurückkehren. Sie wusste es jetzt noch nicht, nahm sich aber fest vor, sich von ihrem Vater in keiner Weise bei ihren Entscheidungen beeinflussen zu lassen.
Sie übernachteten in Castellarano, einer kleineren Stadt, die bereits am Rand des Apennins lag, und folgten am nächsten Tag dem Lauf der Secchia nach Modena, das sie am späten Nachmittag erreichten. Giulia hatte auf Anraten der Mamsell die Herberge Il Leone als vorläufiges Quartier gewählt, auch wenn ihr Vater über das zwar saubere, aber für seinen Geschmack zu schlichte Wirtshaus die Nase rümpfte. Es hinderte ihn aber nicht, sich ausführlich den Freuden der hiesigen Küche hinzugeben und einen ausgezeichneten Toskaner zu genießen. Später am Abend, als Giulia und das Dienerpaar bereits im Bett lagen, überkam Girolamo Casamonte schließlich die Lust auf ein kleines erotisches Abenteuer. »He Bursche«, rief er dem Wirtsknecht zu, der in der Schankstube weilte. Dieser kam eilig herbei, denn er hoffte auf ein Trinkgeld. Casamonte zwinkerte ihm zu und ließ einen Soldo in seiner Hand aufblitzen. »Du bist doch ein Mann von Welt und weißt sicher, welche Magd hier bereit ist, einem einsamen Reisenden einen kleinen Gefallen zu erweisen.«
»Hier im Löwen keine. Die Wirtin ist nämlich sehr streng.« Der Knecht schien die Münze bereits abzuschreiben, als ihm etwas einfiel. »Aber soviel ich gehört habe, führt die Witwe Cotturi in der Via Alfonso ein sehr vornehmes, aber gastfreies Haus und soll einige wunderschöne Nichten ihr Eigen nennen.«
Der Soldo wechselte den Besitzer. Casamonte stand auf und legte dem Knecht die Hand auf die Schulter. »Du kannst mir sicher sagen, wie ich in die Via Alfonso gelange.«
Der andere nickte eifrig und erklärte es ihm.
Casamonte wiegte besorgt den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich den Weg in der Dunkelheit noch finde.«
»Ich besorge Euch ein Licht.« Der Knecht wartete die Antwort nicht ab, sondern eilte davon und kehrte kurz darauf mit einer brennenden Laterne zurück. Sein Gesicht wirkte beunruhigt, so als sei ihm noch etwas Wichtiges eingefallen. »Ich weiß nicht, ob mein Rat gut war. Die Dame Cotturi soll wirklich sehr vornehm sein. Ich weiß nicht, ob sie fremde Reisende überhaupt in ihr Haus lässt.«
»Mich wird sie schon einlassen«, erwiderte Girolamo Casamonte lachend und klopfte dabei auf die prall gefüllte Börse, die schwer an seinem Gürtel hing. Er bedankte sich bei dem Knecht für die Laterne und verließ den Löwen in blendender Laune. Die Wegbeschreibung war so präzise, dass er schneller vor der Casa Cotturi stand, als er erwartet hatte. Er warf einen zufriedenen Blick auf das feste Portal mit den polierten
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