Die Katastrophe
irgendwo...«Sie sprach nicht weiter.
»Falls es hier wirklich keinen Empfang gibt«, erklärte David, »brauchen wir etwas anderes, um uns zu verständigen. Etwas, womit wir genügend Lärm machen können, falls wir Hilfe brauchen.«
»Wir wäre es damit?« Paul trat an den Schrank, zog zwei Topfdeckel heraus und schlug sie gegeneinander. »Das müsste reichen. Hier oben dürfte man das kilometerweit hören.«
Katie nickte. »Okay, dann brechen wir auf.«
Sie kamen langsam voran. Sie machten jeweils nur ein paar Schritte hintereinander, ruhten sich aus und gingen dann weiter. Ein paar Schritte. Pause. Schritte. Pause. Es hatte aufgehört zu schneien, doch der Wind peitschte Katie ins Gesicht und fegte ihr aus allen Richtungen harten und kalten Schnee entgegen. Der Schnee blieb auf ihrer Kleidung hängen und bei jedem Schritt sank sie bis zum Knie ein.
Weit würden sie es so nicht schaffen. Katie war klar, dass sie dann umdrehen mussten. Der Schnee lag schon hier einen halben Meter hoch und sie hätten nicht die geringste Chance, eine Gletscherspalte zu erkennen.
Sie richtete den Blick auf Paul, dessen rotblonder Schopf von seiner dicken Mütze verdeckt wurde. Einmal mehr fragte sie sich, was ihn angetrieben hatte, sich ihnen anzuschließen. War der Grund wirklich, dass er wie sie nur das Abenteuer suchte? Die Herausforderung am Berg?
Und dann war da noch diese Sache, dass er im Gefängnis gewesen war. Er hatte es ihr gegenüber offen zugegeben.
Außerdem konnte sie nicht recht einschätzen, was er von ihr dachte. Auf der einen Seite versuchte er ständig, sie zu provozieren, dann wieder hatte sie das Gefühl, er mache sich ernsthafte Sorgen um sie. Wie gestern im Tunnel, als er gespürt hatte, wie schlecht es ihr ging.
Gott, Menschen waren wirklich zu kompliziert! Irgendwie, dachte Katie, ist die Abteilung Soziale Kompetenz in meinem Gehirn ziemlich spärlich ausgestattet. Zum Raten und Taktieren hatte sie kein Talent. Entweder sie schwieg ganz oder sie sagte offen heraus ihre Meinung.
Und noch während sie das dachte, hörte sie sich schon fragen: »Warum?«
Paul wandte ihr den Kopf zu. Weißer Atem stieg aus seinem Mund, als er fragte: »Warum was?«
»Warum warst du im Gefängnis?«
»Wusste ich doch, dass du irgendwann danach fragst.«
»Wieso hast du es mir dann nicht gleich erzählt?«
»Warum sollte ich?«
»Also, warum?«
Er setzte seine Brille ab und seine gelbbraunen Augen schienen in diesem Licht plötzlich ganz dunkel. »Ich habe jemanden umgebracht.«
Katie stockte der Atem. Sollte das ein schlechter Scherz sein? Nein, irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck überzeugte sie, dass er die Wahrheit sprach.
Dieser Ort war absolut ungeeignet für so ein Geständnis. Sie waren ganz alleine hier draußen in dieser verschneiten Einöde.
»Du hast jemanden... getötet?«, stieß sie hervor.
Einen schier endlos scheinenden Augenblick lang schwiegen sie.
Schritt. Pause. Schritt. Pause.
»Und warum bist du dann frei?«
Er sah ihr ins Gesicht. »Ich wurde begnadigt.«
Katie atmete erleichtert aus. Okay, er hatte sie nur schockieren wollen. Natürlich hatte er niemanden umgebracht. Ein Mörder wurde schließlich nicht begnadigt.
»Es gab einen Verfahrensfehler bei der Gerichtsverhandlung«, fuhr Paul fort und fuhr sich mit dem Finger über die Narbe in seinem Gesicht. »Die Polizei hat Beweismaterial geliefert, das sich im Nachhinein als falsch erwiesen hat. Es sind einfach Dinge passiert, die nicht rechtmäßig waren. Deshalb mussten sie mich auf Bewährung freilassen.«
Wieder sekundenlanges Schweigen.
Das war nicht die Antwort, die Katie erwartet hatte. Und die nächste Frage wollte sie überhaupt nicht stellen.
Der Wind fegte mit einem pfeifenden Geräusch über sie hinweg.
»Verfahrensfehler«, sagte sie, »heißt das...?«
»Es ist wahr. Ich habe wirklich jemanden getötet«, sagte Paul, den Blick nach vorn in die Schneewüste gerichtet. »Einen Jungen an der Highschool. Sein Name war Michael. Ich habe ihm ein Messer in den Bauch gerammt und er ist auf dem Weg zum Krankenhaus gestorben.«
Katie erschauerte. »War es Notwehr?«
Paul lachte kurz auf. »Nein, ich wollte es tun, verstehst du? Ich habe es mit Absicht gemacht.« Katie hörte seine Stimme lauter werden, zorniger. »Und ich würde es jederzeit wieder tun.«
Er setzte seine Brille wieder auf und verbarg jeden Gesichtsausdruck damit. »Weißt du, es gibt auch heute noch Menschen, für die ich töten würde. Für dich zum
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