Die Katastrophe
Sprache herausrücken wollte. Bis ihr das irgendwann auf die Nerven ging und sie fragte: »Was ist los?«
»Es ist nur wegen gestern. Dieser Steinschlag. Das war allein meine Schuld.«
»Warum soll es deine Schuld gewesen sein?«
»Ana hat uns gewarnt, laute Geräusche zu machen. Sie hat vorhergesagt, dass so etwas passieren könnte. Aber dann . . .« Er brach ab.
»Was?«
»Ich . . . ich habe mir einfach Sorgen um dich gemacht. Und ich war so wütend auf Chris.«
»Ich war auch wütend auf ihn.«
»Aber als ich dich gerufen habe... plötzlich sind die Steine aus der Decke gebrochen. Du warst dort in der Dunkelheit verschwunden und ich hab mich einfach nicht beherrschen können. Ich hatte keine Ahnung, wo du warst oder ob dir etwas passiert war... Verstehst du? Ich bin derjenige, der dich in Lebensgefahr gebracht hat!«
»Ist schon okay, David. Du hast es ja nicht mit Absicht getan.«
Sie schwiegen einige Minuten.
»Ich kann einfach nicht verstehen, was du an ihm findest.« David hatte sie nicht angesehen. »Er...erist so unberechenbar.«
»Jeder Mensch ist unberechenbar.«
David schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Das ist bloß ein abgegriffenes Klischee! Daran will ich nicht glauben.« David war auf sie zugegangen, war direkt vor ihr stehen geblieben und hatte sie einfach nur angesehen. Das war so irre gewesen. Weil sie, Julia, es ausgehalten hatte. Sie hatte David ins Gesicht sehen können ohne Verlegenheit, ohne Nervosität, ohne Furcht.
Es war so... vertraut gewesen. Er war so vertraut gewesen. Und für einen Moment hatte sie gedacht: Du könntest ihm alles erzählen. Deine ganze Geschichte. Alle Geheimnisse. Und er würde sie für sich behalten. Ganz sicher.
Und dann hatte sie sich bewegt und eine Haarsträhne war ihr ins Gesicht gerutscht. David hatte ganz instinktiv die Hand gehoben, um sie hinter die Ohren zu streichen – und im nächsten Moment stand Chris vor ihnen und die Hölle brach los.
Sie könnte es David immer noch erzählen. Aber sie ahnte, dass dieser Augenblick vorbei war. Denn im Gegensatz zu ihm glaubte sie an das Klischee, so abgegriffen es auch sein mochte, heute mehr denn je.
Jeder Mensch war unberechenbar. Und Gefühle konnten einen belügen. Auf sie konnte man sich genauso wenig verlassen wie auf seinen scheinbar besten Freund.
Julia seufzte und erhob sich vom Bett.
Sie schlüpfte in ihre Schuhe und ging in den Flur hinaus. An der Treppe zögerte sie ein letztes Mal, doch dann gab sie sich einen Ruck und ging die Stufen hinunter ins Erdgeschoss, wo die anderen um den Tisch herumsaßen.
»Okay, jetzt mal zu den Fakten. Wann brechen wir auf?«, hörte sie Chris fragen.
»Morgen in aller Frühe«, erwiderte Katie. »Je früher, desto besser. Wir müssten den Gipfel gegen Mittag erreichen.«
»Und was ist mit dem Wetter, Katie West?«, fragte Paul. »Hat dir der Ghost etwa geflüstert, dass es sich bis morgen beruhigt hat?«
Es gibt immer zwei Möglichkeiten«, erklärte Katie und Julia fiel auf, dass etwas in ihrer Stimme vibrierte, das sie nicht recht einordnen konnte. »Du rechnest jeden Tag mit einer neuen Chance oder du gibst gleich auf. Ich habe einen Plan in meinem Kopf und an dem halte ich fest.«
Julia bewunderte die Koreanerin. Sie wusste, was sie wollte, und holte es sich. Ganz im Gegenteil zu ihr. Was vermutlich einfach daran lag, dass sie, Julia, nun einmal nicht wusste, was sie wollte.
»Volles Risiko, das ist mein Motto.« Benjamin. »Kennt ihr nicht die Geschichte von diesem...wie war sein Name? Mist, fällt mir nicht ein, aber es gibt sogar einen Film über ihn.« Benjamin hob seine Dose Bier hoch, schüttelte sie und stellte fest: »He, schon wieder leer.« Dann erhob er sich, ging zum Vorratsschrank und meinte: »Also, was ist? Wir haben noch genau vier Dosen. Entweder wir machen sie heute leer, nach dem Prinzip Hoffnung. Weil morgen die Sonne scheint und wir unsere Fünfsterneunterkunft sowieso verlassen. Oder wir teilen sie genau ein. Eine Dose für uns alle an jedem Abend. Was meint ihr?« Dann kehrte er zum Tisch zurück, blieb kurz stehen und schlug ohne Vorwarnung Chris auf die Schulter. »Jetzt hab ich es! Chris hieß er, wie du! Christopher McCandless! Lasst uns auf den Typen trinken! Der Junge war ein verdammter Held!«
Ana schnaubte. »Der Junge war ein verdammter Idiot!«
Julia warf ihr einen Blick zu. Wie lange war Ana wohl schon zurück? Und wo zum Teufel war sie überhaupt gewesen?
»Von wem sprecht ihr eigentlich?«, mischte
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