Die Kathedrale der Ketzerin
mir!
Alexanders Warnung kam ihr in den Sinn. Wie er sich doch irrte!
Sie hatte Blanka nicht einmal gesehen. Die Fänge , von denen er
gesprochen hatte, gehörten keinem anderen Menschen an, sondern die wuchsen in
ihr selbst und hielten sie auf Satans Erde fest, der sie doch entwachsen
wollte.
»Komm, Johanna«, sagte sie zu ihrer Nichte, »zieh dich warm an; wir
gehen jetzt auf den Hof und bauen einen Schneemann.«
»Was ist denn das?«, fragte das Kind verwundert.
»Eine Figur, die wir aus Schnee zusammensetzen. Das ist ganz leicht,
weil er jetzt nass ist und gut klebt.«
»Einen Mann?«, fragte Johanna zweifelnd. »Warum keinen Hund?
Einen süßen kleinen Hund wie meinen Pipo daheim in Toulouse.«
Das erste Anzeichen von Heimweh. Clara hatte damals den Eichelhäher
vermisst, der allmorgendlich an das Holz vor ihrem Fenster geklopft hatte, um
sich sein Frühstück abzuholen.
»Ein wunderbarer Gedanke, Johanna! Lass uns also den ersten
Schneehund Frankreichs gestalten!«
Das Kind zögerte immer noch.
»Aber mein Vater wird ihn nicht sehen! Warum ist er nicht mehr bei
uns?«
Wie erklärt man einem Kind, dass
sein Vater bis zur offiziellen Verhandlung seiner Vergehen eingesperrt werden
würde? Das hatte Clara am Morgen in Erfahrung gebracht und selbst auch nicht
so recht verstanden. Ihr Bruder war zusammen mit Blanka nach Paris geritten, wo
er im Louvre warten sollte, bis die Königin Zeit fand, sich mit seinen
Angelegenheiten zu beschäftigen.
Weshalb dieses Gefängnis? Raimund war doch aus freien Stücken in
den Norden gereist, um sich zu ergeben. Warum konnte er nicht einfach weiterhin
als Gast des Grafen von Champagne in der Burg von Meaux wohnen bleiben?
Fluchtgefahr war schließlich nicht gegeben.
Wahrscheinlich stecken durchaus praktische Gründe dahinter,
überlegte Clara. Blanka und ihre Berater mussten mit Raimund verhandeln, und
die Trutzburg des Louvre, die Blankas Schwiegervater König Philipp zum Schutz
des rechten Seine-Ufers hatte errichten lassen, war vom Cité-Palast aus
müheloser zu erreichen.
Von einem Krieg, einem Feldzug, war auch die Rede gewesen, doch
Clara hatte sich darauf keinen Reim machen können. Leider war Theobald schon
zuvor abgereist, sodass sie auf Vermutungen angewiesen war. Wahrscheinlich
macht Mauclerc wieder Schwierigkeiten, dachte sie, als sie mit Johanna am
Schneehund arbeitete, der nicht sonderlich gut gelang und am Ende eher einem
Schneemann auf allen vieren als Johannas schmerzlich vermisstem Pipo ähnelte.
Ohne Theobald und Raimund kam sich Clara auf der Burg von Meaux
ziemlich verlassen vor. Wenn wenigstens ihre alte Freundin Agnes, Theobalds
Gemahlin, da gewesen wäre! Aber die fristete ein äußerst beschränktes
Eheleben in Troyes, der Hauptstadt der Champagne.
Clara begriff sehr schnell, dass weder Theobald noch Raimund
irgendwelche Anweisungen über den Umgang mit den beiden fremden weiblichen
Wesen aus Toulouse in Meaux ausgegeben hatten. Als hätte man uns vergessen,
dachte sie. Das darf ich nicht zulassen; für Johanna muss ordentlich gesorgt
werden. Wenn der Hof nicht zu uns kommt, gehen wir eben zum Hof.
Johanna, die der gleichförmigen Schneelandschaft um die Burg wenig
abgewinnen konnte, zeigte sich hocherfreut, als die Tante ihr wenige Tage später
eine Reise zum königlichen Hof in Paris ankündigte. Mit einer
Selbstverständlichkeit, als wäre sie selbst die Herrin der Burg, forderte Clara
den Vogt auf, eine angemessene Begleitung für den dreivierteltägigen Ritt
zusammenzustellen, und machte sich mit Johanna auf den Weg.
Ganz so schnell, wie es sich Blanka gewünscht hatte,
konnte Theobald das Heer aus Bürgersleuten nicht zusammenrufen. Doch immerhin
gelang es ihm, innerhalb von vier Tagen eine beeindruckende Truppe aus den
Städten und den der Königin treu verbundenen Landstrichen zu sammeln. Die
wenigsten Männer waren kriegserfahren, aber sie liebten ihre Königin und
glaubten an sie. Wenn diese also mitten im Winter einen Feldzug plante, wollte
man sie keineswegs im Stich lassen.
Doch nicht sie selbst würde diesen Feldzug anführen. Es sollte die
erste militärische Aktion ihres Sohnes Ludwig werden.
»König Ludwig wird euch zum Sieg führen!«, rief sie an einem
bitterkalten Januarnachmittag der Menschenmenge zu, die sich wie damals wieder
vor dem Cité-Palast versammelt hatte. »Wir werden die Burg von Bellême
belagern, in der sich der Verräter Mauclerc, dieser böse Geistliche,
wahrscheinlich verschanzt hält! Wir werden
Weitere Kostenlose Bücher