Die Kathedrale der Ketzerin
Troubadour, der zwar eine
andere ehelich gebundene, aber gänzlich unerreichbare Frau zu lieben vorgab,
entschieden vorzuziehen.
Alles war wieder da. Als hätte es die Szene in Blankas Kemenate
nicht gegeben. Jene Szene, die nach Claras Wissen Theobalds Vertreibung
vorausgegangen und vielleicht der Grund dafür gewesen war. Jene Szene, die sie
selbst in die Verzweiflung und an das Rosenfenster der Kathedrale getrieben
hatte, wo ihr Felizian begegnet war. Ja, sicher hatte Gott ihr Herz prüfen,
ihren Wankelmut ausloten wollen.
Clara ergriff Theobalds andere Hand.
»Halte dich in meiner Nähe«, flüsterte sie. »Dann wird sie zumindest
nicht umhinkommen, dich wahrzunehmen. Alles andere wird sich zeigen.«
Das Fest sollte bis in die frühen Morgenstunden dauern.
Clara, die seit der Begegnung mit Felizian auf jeglichen Genuss von Fleisch
verzichtet hatte, ließ sich an diesem Abend Schwanenleber, Gänsekeule und Hirschbraten
schmecken. Sie sprach auch dem schweren süßen Wein weit mehr zu, als es sonst
ihre Gewohnheit war. Manchmal blickte sie zu der erhöhten Tafel, an der das
gekrönte Paar Hof hielt, und fand es fast unvorstellbar, dass sie sich nur
einen Tag zuvor gemeinsam mit dieser unnahbar schönen bleichen Frau Erbsenpaste
auf das Gesicht hatte schmieren lassen.
Sie konnte Theobalds Verzweiflung
gut verstehen. Auch er war Blanka einst so nahe gewesen wie ein eigenes Kind
und von einem Tag auf den anderen ohne Angabe von Gründen vom Hof verbannt
worden. Er hatte in gewisser Hinsicht seine Heimat verloren. Clara wollte sich
gar nicht ausmalen, wie unglücklich sie wäre, würde ihr Blanka einmal die Gunst
entziehen. Was sie zweifellos täte, kämen ihr je Claras Besuche bei den
Versammlungen der Häretiker zu Ohren. Aber damit war ja jetzt Schluss, dachte
Clara befriedigt, und niemand würde es je erfahren. Wie gut, dass sie dem am
Vortag noch übermächtigen Verlangen, Felizians Namen auszusprechen, nicht
nachgekommen war.
Sie erschauerte kurz, als sie bedachte, wie nah sie daran gewesen
war, alles zu verlieren. Wie unbedacht sie ihr ganzes Leben, ihre Zukunft,
vielleicht sogar ihre Seele aufs Spiel gesetzt hatte! Nur, weil Theobald ihr
nicht seine Liebe erklärt hatte.
Ein Troubadour stimmte ein neues Lied an. Theo verzog das Gesicht.
Eine kraftlose Stimme kündigte das neuste Werk des Dichters Gilles de Paris
an:
»Carolinus!«
Karl der Große.
»Was quäkt der da nur«, flüsterte Theobald Clara zu. »Dieses
Männlein ist ebenso wenig zum Troubadour geboren wie Ludwig zum Kaiser.«
»Aber über seine Mutter Elisabeth von Hennegau stammt Ludwig doch
unmittelbar vom großen Kaiser ab. Wer weiß, vielleicht kommt er später
tatsächlich zu solcher Ehre«, flüsterte Clara zurück, legte ihm begütigend
einen Finger an die Lippen und rückte etwas näher an ihn heran.
Während des bemerkenswert ausdruckslosen und ermüdenden Vortrags
wurde Theobald immer ungeduldiger. Knurrend rutschte er auf seiner Bank hin und
her und äffte das Quieken des Troubadours nach. Immer wieder stieß Clara ihn an
und gebot ihm zu schweigen. Ungnädig knurrte er weiter. Der Vortrag bereitete
ihm geradezu körperliche Pein.
Beim Höhepunkt des Liedes überschlug sich die ohnehin schon
überforderte Stimme des Troubadours, sodass die Verkündigung des heiligen
Valerius zu einem Piepsen verkam:
»Lass sieben Menschenalter kommen und gehen,
aus Carolinus’ Samen wird sein Reich neu erstehen!«
Abrupt erhob sich Theobald. Verzweifelt versuchte Clara
ihn auf den Sitz zurückzuziehen, aber er riss sich los. Er sprang auf den
Tisch, beförderte mit einem Fuß eine nicht ganz leere Suppenschüssel scheppernd
zu Boden, starrte Blanka an und sang wütend, aber wohltönend:
»Lobgesang aus Frosches Schlund behagt vor allem Kröten,
das tut dem edlen Paare kund ein Troubadour in Nöten.
Der ihm aus ganzem Herze huldigt …«
Schon bei seinem ersten Wort war es still im Saal
geworden, von ein paar mühsam unterdrückten Glucksern abgesehen. Alles blickte
voller Spannung auf das Königspaar. Blanka zögerte nicht. Mit
unmissverständlicher Handbewegung forderte sie auf, den Störenfried
augenblicklich zu entfernen. Mehrere kräftige Männer stürzten sich auf Theobald
und rissen ihn mitsamt zahlreichen weiteren Schüsseln vom Tisch.
»… und sich für Dreistigkeit entschuldigt«, brachte Theobald, von
vier Männern übermannt am Boden liegend, seinen Vers zu einem nicht sehr
glücklichen Ende. Über und über mit Essensresten
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