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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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hinweg, dass
ihre Züge der Königin wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schienen. Auch
der Haltung und der Gestalt nach hätte sie Blankas Zwillingsschwester sein
können.
    »Welch ein Wunder!«, rief Königin Ingeborg. »Und eine
Schicksalsfügung. Diese Frau könnte dich gelegentlich vertreten.«
    »Warum sollte sie!«, war Blanka aufgefahren.
    »Damit du mehr mit deinen Kindern – und mit deinem Mann zusammen
sein kannst«, antwortete Ingeborg. »Wie viel deiner Lebenszeit verbringst du
mit unwichtigen Anlässen, solchen, bei denen es nur darum geht, vom Volk
gesehen und gehuldigt zu werden! Solche Auftritte sind mir erspart geblieben,
aber ich weiß von meiner Mutter, wie ermüdend sie sein können. Wie erschöpft
sie einmal von einem Ausritt zurückkehrte und bemerkte, es hätte ebenso gut ein
Bild von ihr auf dem Sattel sitzen können. Da – da drüben unter dem
Wasserspeier hast du dein Bild!«
    Blanka musterte die junge Frau. Welch unbehagliches Gefühl, unter
freiem Himmel seinem Spiegelbild zu begegnen! Sie fasste sich unwillkürlich
an den Kopf, um sicherzugehen, dass sich das richtige Gebilde darauf befand und
nicht nur das Gebende aus rauem Stoff.
    »Wenn diese Frau so wie du zurechtgemacht wird, lernt, sich wie eine
Königin zu bewegen und zu sprechen, wird sie alle täuschen. Selbst im Palast.«
    »Ludwig nicht.«
    Ingeborg lachte heiser. »Sie braucht dich ja nicht überall zu
ersetzen. Ich finde, es ist einen Versuch wert. Überleg es dir.«
    Königin Ingeborg selbst übernahm es, aus der Frau des
Steinbildhauers eine Nachbildung der Königin zu erschaffen. Sie lehrte sie
huldvolles Lächeln, die rechten Bewegungen und die allgemeine höfische
Etikette. Sie erwog erst, Lisettes Mann zu untersagen, weiterhin an der Fassade
der Kathedrale zu bauen, und wollte ihn mit Arbeiten in ihrem eigenen Palast in
Corbeil beauftragen. Doch dann bedachte sie, wie eine solche Auszeichnung den
Steinmetz in den Mittelpunkt eines Interesses rücken könnte, das nun gerade
vermieden werden musste. Er sollte also weiterhin seine Arbeit verrichten. Sie
schenkte dem Paar ein Vermögen. Keinen Zweifel ließ sie daran, dass beide des
Todes wären, käme die Täuschung jemals ans Licht.
    Clara machte Lisette mit den Verhältnissen am Hof vertraut, lehrte
sie reiten und einen Falken auf dem Arm halten. Sie schulte Stimme und Sprache
der Pariserin und hielt sich später bei den ersten harmlosen Auftritten des
Spiegelbildes der Königin im Hintergrund, um bei Entgleisungen notfalls
einschreiten zu können. Und natürlich war die Kammerfrau eingeweiht, die sich
als Einzige darauf verstand, Lisette in jeder Hinsicht wie die Königin
herzurichten. Außerdem sorgte sie dafür, dass sich Blanka in ihren Gemächern
ungestört mit Kindern und Gemahl aufhalten konnte, wenn sich Lisette anstelle
der Königin irgendwo blicken ließ.
    Lisette erwies sich als sehr gelehrige Schülerin. Überwältigt von der Ehre, die ihr zuteil geworden war, sonnte
sie sich in dem Gefühl, ein eminent
wichtiger Mensch zu sein, der zu bestimmten Zeiten von den Untertanen
verehrt zu werden hatte. Schon nach wenigen Wochen wirkte sie derart
überzeugend, wenn sie Huldigungen entgegennahm, dass selbst Königin Ingeborg
ein Schauer über den Rücken lief. Als sie zudem vernahm, dass sich Lisette
geweigert haben sollte, nach einem ihrer Auftritte in den schäbigen ehelichen
Verschlag nahe der Kathedrale zurückzukehren, befahl sie die Doppelgängerin zu
sich.
    »Ihr habt jetzt genug Geld, um
euch ein schönes Haus außerhalb von Paris zu leisten«, sagte sie. »Zieht fort.
Auf den Straßen von Paris darfst du dein Gesicht nicht mehr zeigen. Wir lassen
dich in den Palast holen, wenn wir deiner benötigen.«
    »Herrin, ich mag meinen Mann nicht mehr«, gestand Lisette und
unterbreitete Ingeborg einen Vorschlag, der sie lachen gemacht hätte, wäre er
nicht so ungeheuerlich gewesen.
    »Jetzt, Magd, gehst du zu weit!«, sagte die alte Königin eisig und
stieß ungläubig hervor: »Was redest du da? Wir sollen dir ein Abbild des
Königs suchen, damit ihr als Paar auftreten könnt?«
    »Ich könnte ihn mehr lieben«, hatte Lisette doch tatsächlich zu
antworten gewagt und mit diesem Satz Ingeborgs ganzen Zorn auf sich gezogen.
    »Du sollst deinen Mann lieben, weil du mit ihm verheiratet bist, und
deinen König, weil er dein König ist!«, schimpfte sie. »Du sollst deine
Arbeit machen und ansonsten den Mund halten! Andernfalls werden wir dich als
Ketzerin

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