Die Kathedrale der Ketzerin
helfen?«
Die alte Frau wandte sich an Blanka und fragte ohne sonderliche
Betonung: »Willst du ihn ins Himmelreich zurückkehren lassen?«
»Nein!«, rief Blanka entsetzt und fügte an: »Er ist noch so
klein, hat doch noch gar nicht gelebt!«
»Das sind die reinsten aller Seelen«, erwiderte die Frau
ehrfürchtig. »Zeig ihn uns.«
Gemeinsam mit den drei anderen Frauen stellte sie sich an einen grob
gezimmerten Tisch, auf dem ein rußendes Öllicht flackerte. Blanka zögerte kurz,
trat dann ebenfalls näher an das Licht und enthüllte das wächserne Gesicht des
Sohnes an ihrer Brust. Sie war etwas ruhiger geworden. Hexen sprachen nicht vom
Himmelreich.
»Lebt er überhaupt noch?«, fragte die alte Frau und bat mit
ausgestreckten Armen, ihr das Kind zu reichen.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte
Blanka tränenblind. Diese Frage hatte sie die halbe Strecke lang
gequält; es war ihr, als sei Karl unterwegs immer kälter und steifer geworden,
als sei er ihr längst entglitten.
Sie gab sich einen Ruck und reichte ihr Kind der fremden Frau. Diese
legte den winzigen Körper auf den Tisch und wickelte ihn aus. Unterhalb der
ausgemergelten Brust war der kleine Leib stark aufgebläht. Sanft öffnete die
Frau den Mund des Knaben. Dort, wo einmal Zähne wachsen sollten, war alles
schwarz.
»Er lebt noch«, erwiderte die Frau, »aber er scheint Gift zu sich
genommen zu haben.«
»Woher denn!«, rief Blanka empört. »Er trinkt doch nur meine
Milch, sonst nichts!«
Die Frau streckte ihren Arm aus und wölbte die Hand zu einer Schale.
»Gib mir von deiner Milch«, sagte sie.
Blanka wich zurück.
»Meine Milch ist nicht vergiftet! Ich habe viele Kinder mit ihr
genährt! Jeder weiß, dass …«
Begütigend legte ihr Clara die Hand auf die Schultern.
»Ruhig, meine Freundin«, sagte sie laut.
Blanka durfte sich nicht verraten. Ja, jeder im Land wusste, dass
die Königin für sich die Dienste von Ammen ablehnte und ihre Kinder selbst
stillte. Dass sie vor Jahren eine Hofdame entlassen hatte, weil diese, die
ebenfalls gerade ein Kind zur Welt gebracht hatte, Blankas schreiendem Sohn
Ludwig während einer kurzen Abwesenheit der damaligen Kronprinzessin die eigene
Brust gegeben hatte. Damals war Clara selbst noch fast ein Kind gewesen, aber
mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie Blanka den armen Säugling alles
hatte erbrechen lassen, was ihm die Hofdame zugeführt hatte.
Diese Geschichte war allgemein bekannt, aber es durfte keinesfalls
bekannt werden, dass sich die Königin in der Verzweiflung über ihr todkrankes
Kind um Hilfe an Häretiker gewandt hatte. Zumal Clara gerade dieses Detail
sorgsam vor Blanka geheim gehalten hatte.
Niemals hätte Blanka zugestimmt, sich von Katharern beraten und
helfen zu lassen. Wahrscheinlich hätte sie ihr Kind sogar lieber sterben
lassen. Aber Clara war in den vergangenen drei Jahren mehrmals Zeugin geworden,
wie diese aus einem Landstrich hinter Bulgarien stammende alte Perfecta
Todgeweihten Aufschub verliehen hatte – wiewohl sie ihnen sicherlich lieber das
Consolamentum erteilt und sie in den Himmel entlassen hätte.
Auf Claras Frage, weshalb sie ihre Kunst dennoch der sterblichen
Hülle widme, anstatt der Seele die Befreiung zu gestatten, hatte die Perfecta
geantwortet, sie habe keine Wahl. Das sei es eben, was sie könne. Clara glaubte
verstanden zu haben: Sie sei verpflichtet, ihre Fertigkeit einzubringen, um
Leiden zu mindern. Aber darum ging es der Frau nicht. Sie erklärte, nicht
urteilen zu dürfen, wann eine Seele tatsächlich bereit sei, wieder ihren
angestammten Platz im Himmel einnehmen zu können. Vielleicht hätte dieser
gefallene Engel noch viele Leben zu erleiden, ehe er reif für die Rückkehr in
die eigentliche Heimat wäre. Clara wusste also, dass sie der alten Frau eine
große Last aufbürdete, als sie ihr zumutete,
die mit Sicherheit noch völlig unschuldige Seele eines Säuglings zu
retten, damit dieser vor seinem unvermeidlichen Heimgang erst die wahre Hölle,
nämlich das sündenbelastete Leben auf Erden, durchlaufen musste.
»Jeder weiß, dass ein Säugling nur
Frauenmilch zu sich nimmt«, vollendete Clara nun Blankas Satz, »und
daher, liebste Freundin, ist es von Belang, deine Milch zu kosten.« Leise
flüsterte sie in Blankas Ohr: »Vielleicht hat der Küchenmeister einen Fehler
gemacht und verdorbenes Fleisch gereicht.«
Blanka wandte sich ab und griff sich in den Ausschnitt.
»Nein!«, unterbrach die alte Frau. »Nicht über deine Hand.
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