Die Kathedrale der Ketzerin
herrlicher
Wahnsinn! Den durfte er sich nicht entgehen lassen! Den musste er für sich
nutzen! Eine solche Gelegenheit würde nicht wiederkommen.
»Aufstehen! Wir reiten die Nacht hindurch!«, befahl er seinen
Männern. Er musste so schnell wie möglich nach Carcassonne kommen, Clara finden
und sich dann mit ihr auf eine neue Reise begeben. Zu einem sehr weit
entfernten Ziel, das ihm vor der Lektüre
dieses Briefes niemals in den Sinn gekommen wäre. Ich bin genauso
wahnsinnig wie die Königin, dachte er. Und dieser Gedanke bereitete ihm große
Freude.
Zwischen den massiven Mauern der Festungsstadt Carcassonne
herrschte zur selben Zeit hektische Betriebsamkeit. Niemand wusste, wann der
König mit seinem riesigen Kreuzfahrerheer eintreffen würde. Es war jedenfalls
nicht zu erwarten, dass sich der neue Herrscher mit dem Treueid der ihm vor
Monaten entgegengerittenen Abordnung zufriedengeben und an der eindrucksvollen
Burg vorbeireiten würde. Den Triumph einer friedlichen Einnahme dieser
berüchtigten Katharerfestung würde er sich keinesfalls entgehen lassen; das war
allen bewusst.
»Dennoch wird es ein grausames Blutvergießen geben«, sagte Felizian. »Man wird die guten Menschen jagen,
bösen Befragungen aussetzen, foltern und auf Scheiterhaufen eines
elenden Todes sterben lassen.«
Er trat an ein Fenster des großen Saales im Grafenschloss der
Festung, ließ seinen Blick über die sommerverbrannten Felder im Tal der Aude
schweifen und wandte sich dem Hausherrn des mächtigen Gebäudes zu.
»Wenn wir alle fortgehen, sind die Bürger Carcassonnes geschützt.«
»Wie leer meine Stadt dann sein wird«, seufzte der Vicomte. Er
wandte sich an Pierre Isarn, den Katharerbischof von Carcassonne, der drei
Jahre zuvor gewählt worden war und zusammen mit ihm die Geschicke der Stadt
gelenkt und ein umfangreiches Archiv angelegt hatte. »Aber Felizian hat recht,
verehrter Freund, es ist wohl für alle am besten, wenn Ihr mit den Euren so
rasch wie möglich Richtung Toulouse zieht.« Der Vicomte senkte den Blick, als
schäme er sich. »Das ist die einzige Stadt, die sich den Franzosen noch
widersetzt, von Avignon mal abgesehen. Aber ich fürchte, es ist nur eine Frage
der Zeit, wann auch diese beiden Städte fallen. König und Kirche sind zu
mächtig. Und wo geht Ihr dann hin?«
Eine helle Stimme erklang: »Mein Bruder Raimund wird in der Lage
sein, uns allesamt zu schützen!«
Clara stellte sich neben Felizian und sah den Vicomte herausfordernd
an. Der unterdrückte ein Lächeln und bemerkte: »Auch das wird mir sehr
fehlen: junge Frauen, die sich unbekümmert zu Wort melden dürfen, wenn ihnen
danach ist. Sobald die Franzosen wieder das Sagen haben, werden die Frauen in
der Gemeinde wohl abermals zum Schweigen verdammt sein.«
»Muss die Zeit denn in jeder
Hinsicht zurückgedreht werden?«, fragte der katharische Bischof. »Vielleicht
hinterlassen wir euch ja noch ein wenig mehr als nur das freie Wort der Frau.«
»Es tut mir so leid!« Der Vicomte breitete verzweifelt die Arme
aus. »Ihr werdet mir fürchterlich fehlen! Eure Gespräche, Eure Handwerker,
Eure Friedfertigkeit, Eure Heilkunst, Eure Großzügigkeit, Euer Geist und Eure
verrückten Gedanken!«
»Die ich niedergeschrieben habe«, bemerkte Pierre Isarn lächelnd.
»Sorgt dafür, dass sie der Vernichtung nicht anheimfallen, darum bitte ich
Euch.« Er wandte sich an Felizian.
»Und du kümmere dich um den Auszug der Unseren. Ich bleibe hier.«
Nach kurzem entsetztem Schweigen brach es aus Felizian heraus:
»Warum?«
»Weil dies mein Schicksal ist«, antwortete Pierre Isarn, immer noch
lächelnd.
Der Vicomte erhob sich. Schneller als die beiden anderen hatte er
die Tragweite dieser schlichten Feststellung begriffen.
»Nie im Leben!«, rief er entgeistert und hob die Hände. »Ihr habt
meiner Stadt und ihren Bürgern so viel gegeben! Niemand wird Euch je ersetzen
können! Ihr seid der Erste, den ich retten will!«
»Das werdet Ihr tun«, erwiderte der Bischof, »indem Ihr mich
ausliefert. Ganz offiziell und ganz feierlich lasst Ihr mich zu Ehren des
Königs öffentlich verbrennen. Wenn Ihr Eurem neuen Herrscher den ersten Priester
der sogenannten Häretiker vorwerft, könnt Ihr eine Hexenjagd auf die Bürger der
Stadt verhindern. Dann kann an Eurer Treue zum König und Eurem Abscheu vor
unserem Treiben nicht mehr gezweifelt werden.«
Claras Knie wurden schwach. Sie ließ sich auf eine Bank fallen. Kein
Katharer fürchtete das ewige Leben, dem der Tod
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