Die Kathedrale der Ketzerin
während
ihr Mann einen gefährlichen Kreuzzug in Okzitanien unternahm. Dabei hatte sie
im Vorfeld alles perfekt geplant und hatte deswegen sogar Wochen später als
ursprünglich gedacht aufbrechen müssen.
Ihre Kinder hatte sie zur sommerlichen Erholung auf die Landsitze
diverser Verwandter geschickt und ihr achtköpfiges Gefolge gemeinsam mit der
Kammerfrau aus den wenigen im Norden verbliebenen, treu ergebenen Hofbeamten
erwählt – Männer, die zu alt waren, um Ablass durch einen Kreuzzug zu erhalten,
und denen daher selbst an einem Besuch des Grabes Petri gelegen war. Blanka
nahm jedem ihrer Begleiter den Schwur ab, mit niemandem jemals über die
Pilgerreise der Königin und die Rolle der Stellvertreterin zu reden. Lisette
sollte eine durch den Feldzug des geliebten Gemahls seelisch erkrankte Königin
abgeben, die so wenig wie möglich öffentlich in Erscheinung trat. So hatte es
Ingeborg vorgeschlagen.
Die sich zu diesem Zeitpunkt am Rande der Verzweiflung
befand, denn es war etwas geschehen, das weder sie noch Blanka vorausgesehen
hatten: Ihr war die Kontrolle über Lisette entglitten.
Die junge Frau weigerte sich schlichtweg, die von kleineren Reisen
immer wieder kurz an den Hof zurückkehrende Königin zu geben. Sie ging so sehr
in der Rolle der Herrscherin auf, hatte sich so begeistert in das, was sie für
das Tageswerk der Königin hielt, hineingelebt, dass sie zunächst immer
unwilliger Ingeborgs Befehle ausführte und bereits nach wenigen Wochen gar
eigenmächtig zu handeln begann.
Ihre Ablehnung zu »reisen« war nur der Anfang.
Derweil die Königin eigentlich mit einer Unpässlichkeit in ihren
Gemächern ruhen sollte, streifte Lisette mit kaum verhülltem Gesicht auf dem
Palastgelände umher. Sie suchte Küchenhaus, Ställe und Gesindestuben heim, gab
mit barscher Stimme unsinnige Anordnungen und verwirrte Mägde und Knechte. Wer
die echte Blanka aus größerer Nähe erlebt hatte, staunte über die seltsame
Einmischung der Monarchin in solch niedrige Obliegenheiten, führte dies aber
auf den kränklichen Zustand der Königin zurück, die offensichtlich unter
gewisser Verwirrung und der Abwesenheit des Gemahls und der geliebten Kinder
litt. Nicht immer gelang es der Kammerfrau oder Königin Ingeborg rechtzeitig,
Lisette wieder einzufangen und in die Gemächer zurückzuführen, wo Königin
Ingeborg sie wieder und wieder zur Rede stellte und ihr ihre Grenzen aufzeigte.
Doch süß lächelnd ließ Lisette keinen Zweifel daran, dass sie
weiterhin tun würde, wonach ihr gelüstete. Eines Tages bemerkte sie, niemand
könne sie daran hindern, beispielsweise den sehr ansehnlichen Jägermeister in
ihr Schlafgemach führen zu lassen; schließlich sei sie die Königin, der kein
Wunsch abgeschlagen werden dürfe.
Solche Frechheit verschlug sogar Königin Ingeborg kurzfristig die
Sprache. Sie riss Lisette das königliche Gebende vom Kopf, warf es der
händeringenden Kammerfrau zu, packte die falsche Königin grob am Schopf und
versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Außer sich vor Zorn griff die alte Frau
zu einer jener langen Nadeln, mit denen Blanka ihren Mantel zu verschließen
pflegte, hielt sie Lisette wie einen Dolch vor das Gesicht und versprach, ihr
beim nächsten Besuch der Gesindestuben oder der Stallungen die Augen
auszustechen. Mit der Ungeheuerlichkeit ihrer Tat und Sprache habe sie soeben
ihr eigenes Todesurteil auf sich gezogen, das nach Rückkehr der wahren Königin
vollstreckt werden solle.
Dieser Ausbruch Königin Ingeborgs schreckte Lisette endlich aus
ihrem Tagtraum auf. Zu sehr mit ihrer strahlenden Gegenwart beschäftigt, hatte
sie sich über eine nichtkönigliche Zukunft keinerlei Gedanken gemacht,
insgeheim gar vermutet, die möglicherweise jüngst verstorbene Königin für den
Rest ihres Lebens ersetzen zu können.
Verzweifelt heulend warf sie sich Königin Ingeborg zu Füßen, bat um
Gnade für ihre fürchterlichen Verfehlungen und gelobte von nun an
bedingungslose Gehorsamkeit. Die Ordnung schien wiederhergestellt zu sein. Doch
nur wenige Tage später ritt ein Bote des Königs auf der Île de la Cité ein, und
Ingeborg konnte gerade noch mit knapper Not verhindern, dass ihn Lisette
empfing.
Jetzt reichte es Königin Ingeborg. Hielt sich Lisette ständig im
Palast auf, würden notwendigerweise noch weitere Menschen in das Geheimnis
eingeweiht werden müssen. Das barg zu viele Gefahren. Lisette sollte mehr außer
Haus gehen, dabei unter ständiger Kontrolle stehen und keinen
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