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Die Kathedrale der Ketzerin

Die Kathedrale der Ketzerin

Titel: Die Kathedrale der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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ältere Frau Zwiesprache mit Gott
und warte auf seine Weisung.
    Schließlich sagte die Frau, und ihre Stimme schien von weither zu
kommen: »Spiele nicht Schicksal, Clara, denn du kennst weder die Wege des
Satans noch die unseres Herrn. Du wirst auf Erden nicht fähig sein, sie
auseinanderzuhalten. Auch nicht als Perfecta, denn eine solche wirst du wohl
dereinst sein. Du wirst niemals wissen, ob du Gutes oder Böses bewirkst oder
bewirkt hast. Auch wenn die Lüge gelogen war, weißt du nicht, ob sich dahinter
die Wahrheit verbirgt. Und schon gar nicht, ob es eine solche auf dieser Welt
überhaupt geben kann. Wenn deine Freundin in unmittelbare Gefahr gerät und du
sie schützen kannst, wirst du es tun. Du wirst dich dem Übel der Welt nicht
unterwerfen, sondern tun, was du in dir hast, und das wird gut sein. Schmiede
keinen Plan, der Augenblick wird dich weisen. Fide et opere.«
    Clara trat unsicher auf die Perfecta zu. Zu gern hätte sie diese
Frau umarmt, aber sie wagte es nicht. Und zuckte freudig zusammen, als die
Perfecta selbst den Schritt machte und sie in die Arme nahm. Lange hielten sich
beide Frauen umschlungen, bis die Perfecta sich von Clara löste.
    Der liefen jetzt Tränen übers Gesicht.
    »Ich danke Euch«, brachte sie hervor, »für alles.«
    Ein schwaches Lächeln zeigte sich in den Mundwinkeln der Perfecta. Dann schritt sie zu einer Wandnische,
öffnete ein Behältnis, entnahm ihm eine schmale Schriftrolle und ein in
weißes Tuch gehülltes kleines Stück Brot.
    »Lass uns das Brot miteinander brechen«, versetzte sie leise, zog
einen Schemel heran und legte das geöffnete Johannes-Evangelium darauf nieder.
    Nebeneinander kniend beteten beide Frauen das Vaterunser, das
gleiche, das irgendjemand Clara in ferner Vergangenheit gelehrt hatte, das
Vaterunser der römisch-katholischen Kirche, das die Katharer mit nur einer
einzigen Änderung versehen hatten: »Gib uns unser überstoffliches Brot.«
Gemeint war damit das Gesetz Christi, das allen Völkern gegeben wurde.
    Die Perfecta brach das Brot, reichte Clara eine Hälfte und sprach
den letzten Vers des Neuen Testaments: »Die Gnade des Herrn Jesu sei mit
allen!«
    Die Frauen erhoben sich und umarmten einander noch einmal.
    Clara räusperte sich, rang um Worte und sagte dann mit klarer
Stimme: »Wie Ihr wisst, befinde ich mich auf einer langen Reise. Es ist
seltsam und wunderschön, zwischendrin plötzlich heimkommen zu dürfen.«
    Die Perfecta war bei diesen Worten ein wenig blasser geworden,
zuckte aber mit keiner Wimper. Clara war tatsächlich heimgekommen, aber in
einem ganz anderen Sinn.
    Sie war soeben ihrer leiblichen Mutter begegnet. Aber das sollte sie
jetzt nicht erfahren. Nicht nur, weil Ermine, die einstige Gespielin des Grafen
von Toulouse, verstand, dass sich Clara nun um jene Frau zu kümmern hatte, die
ihr wie eine Mutter gewesen war. Sondern weil
sie sich am Tag vor ihrer Geisttaufe für alle Zeiten von ihrem alten
Leben und somit auch von ihrer kleinen Tochter getrennt hatte. Aus gutem Grund.
Mit hässlichen Worten hatte sie danach Raimund von Toulouse den Säugling in den
Arm gedrückt, auf dass er dem Kind all die Liebe schenke, die sie hatte
aufgeben müssen.
    Von der offenen Zellentür aus blickte sie Clara nach. Seit einem
Vierteljahrhundert lebte Ermine als Perfecta und hatte unzählige Prüfungen
bestehen müssen, aber keine war schwerer gewesen als diese. Sie durfte Clara
jetzt nicht zurückrufen, durfte sich ihrer Tochter nicht zu erkennen geben.
    Das gebot die Liebe.

  7  
Abwege
    Herrin, seid bedankt, die Ihr um alles Gute wisst, mehr
Tapferkeit und große Güte sind in Euch denn in jeder anderen vor Euch, obwohl
die Liebe umschlug in großen Hass, kaum ist man von der schönen Dame geliebt
worden.
    Aus einem Lied des Theobald von Champagne
an Königin Blanka

 
    D ie Aussicht, den geliebten Mann bald wieder in die Arme
schließen zu können, mochte Blanka zwar Flügel verliehen haben, doch dies galt
nicht für ihre Begleitung. Als sich der kleine Zug am Nachmittag des folgenden
Tages einer Herberge näherte, drängte Theobald die Königin, Menschen und
Pferden zeitig eine Ruhepause zu gönnen. Alle seien erschöpft, es werde in
absehbarer Zeit dunkel und Hunger plage jeden.
    Blanka schüttelte den Kopf.
    »Wir reiten bis zum nächsten Kloster«, bestimmte sie.
    »Horch!« Theobald hob einen Arm und deutete zur weit geöffneten
Fensterluke der Herberge. Zwischen Rauchschwaden war im anheimelnden Schimmer
eines

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