Die Katze
etwas wie die freie Entscheidung. Wir sind, was wir tun . »Und das ist nicht nur eine Frage von Körpergröße.« Sie machte den Kühlschrank auf und nahm ein Ginger Ale heraus, das sie direkt aus der Dose trank. Man musste nur ihre eigene Familie betrachten. Nein, lieber doch nicht.
Doch es war bereits zu spät. Schon reihten sich ihre Geschwister im Geiste neben ihr auf. Emily mit ihrer adretten blonden Kurzhaarfrisur und ihrer wohlklingenden Fernsehreporter-Stimme. Anne mit ihrem locker hochgesteckten, weichen, kastanienbraunen Haar; Bram mit seinen schlanken Gliedern und den langen Wimpern. Sie waren alle so verschieden, dachte Charley und versuchte, die anderen aus ihrem Blickfeld zu schieben. Und am Ende doch nicht so verschieden. Alle Schwestern waren ehrgeizig und erfolgreich, alle auf verwandten Gebieten. Alle hatten Kinder aus mehreren gescheiterten Beziehungen. Alle leckten ihre unsichtbaren Wunden.
Es war die Art, wie sie mit diesen Verletzungen umgingen, die sie voneinander unterschied.
Und Bram?
Er war auf jeden Fall sensibler als seine Schwestern, neigte mehr zu selbstzerstörerischen Impulsen und dazu, kampflos aufzugeben.
Nur … mehr.
Und weniger.
Schließlich sind wir alle das Produkt unserer Kindheit.
War sie deswegen so entschlossen, dafür zu sorgen, dass ihre Kinder die beste aller möglichen Kindheiten hatten? War sie deswegen immer da, wenn sie aus der Schule nach Hause kamen? War sie deswegen nie länger als zwei Tage von ihnen getrennt gewesen? Schreckte sie deswegen vor der bloßen Vorstellung einer Ehe zurück und hatte nie eine Beziehung gehabt, die länger als zwei Monate gedauert hatte? Hatte sie sich den Luxus, sich zu verlieben, deswegen versagt?
»Vielleicht hab ich auch bloß noch nicht den Richtigen getroffen«, sagte Charley, trank den letzten Schluck Ginger Ale und sah auf die Uhr. Die Kinder würden jeden Augenblick nach Hause kommen, also öffnete sie die Haustür und setzte sich auf die Treppe vor dem Haus. Sie liebte diese Minuten der Erwartung, in denen sie sich die Gesichter ihrer Kinder vorstellte
und wie sie jedes Mal automatisch aufleuchteten, wenn sie sie sahen. Sie fragte sich, ob ihre Mutter das Gleiche empfunden hatte. Aber jedes Mal wenn Charley versuchte, sich ihre Mutter wartend an der Haustür vorzustellen, sah sie nur einen leeren Fleck. Charleys stärkste Kindheitserinnerung an ihre Mutter war deren Abwesenheit.
Und dann war sie zwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden auf einmal wieder da gewesen. Charley konnte sich noch an jedes Wort ihres ersten Telefongesprächs erinnern.
»Charlotte?«, hatte die Frau zögernd gefragt.
Charley hatte sofort gewusst, dass es ihre Mutter war. Sie hatte sich diesen Moment ausgemalt, sich ihr ganzes Leben lang darauf vorbereitet. Wo bist du? Wo bist du gewesen? Glaubst du, du könntest nach all den Jahren einfach so wieder in mein Leben spazieren? Und als der Augenblick dann endlich gekommen war, war sie mit Stummheit geschlagen. Sie brachte kein Wort, keinen Laut heraus. Sie konnte kaum atmen.
»Charlotte, Schätzchen, bist du das? Bitte, leg nicht auf«, fügte sie hinzu, als Charley eben das erwog. »Hier ist deine Mutter, Schatz. Das weißt du, nicht wahr? Bitte sag etwas, Liebes. Ich weiß, dass ich es nicht verdiene, aber bitte sag etwas.«
Wo bist du? Wo bist du gewesen? Glaubst du, du könntest nach all den Jahren einfach wieder so in mein Leben spazieren?
»Wie hast du mich gefunden?«, hatte Charley schließlich stotternd herausgebracht.
»Ich habe einen Privatdetektiv engagiert. Er meinte, ich hätte einfach im Internet nachgucken sollen, dann hätte ich dich auch alleine gefunden. Aber ich verstehe nicht, wie das verdammte Ding funktioniert, und o Gott, ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Geht es dir gut, Schätzchen? Können wir uns treffen? Ich bin hier in Palm Beach. Ich kann gleich vorbeikommen.«
»Glaubst du, du könntest nach all den Jahren einfach so wieder in mein Leben spazieren?«, brachte Charley die Worte endlich doch über die Lippen.
»Du bist wütend, ich weiß«, sagte ihre Mutter. »Und ich weiß, dass ich deine Vergebung nicht verdient habe. Ich erwarte sie auch gar nicht. Ich hoffe bloß, dass du mir eine Chance gibst, alles zu erklären. Bitte, Charley.«
Charleys Kehle schnürte sich zu, Tränen schossen ihr in die Augen. »Warum nennst du mich so?«
»Nun, ich habe alle deine Kolumnen gelesen, Liebes. Von der ersten von vor einem Jahr an. Der Detektiv hat sie für
Weitere Kostenlose Bücher