Die Katze
gemachten Kuchen vorbeibringen oder was auch immer wollte, was Nachbarn so taten, wenn sie nachbarschaftlich sein wollten und was Charley all die Jahre peinlich vermieden hatte, weil sie … das nicht riskieren wollte. Kontakt, Freundschaft, Abhängigkeit, was auch immer. Ein guter Zaun schafft gute Nachbarn, hatte schon der Dichter Robert Frost gewusst. Und nun hatte es nur eines spontanen Angebots bedurft, ein paar Lebensmittel ins Haus zu tragen, um die imaginäre Barriere einzureißen, die sie jahrelang um sich herum errichtet hatte?
Ich glaube, das ist die längste Unterhaltung, die wir je geführt haben.
Nun denn. Kein Grund zur Sorge, entschied sie, als sie an Lynn Moore und Gabe Lopez dachte. Früher oder später würde sie auch mit Doreen wieder aneinandergeraten. Seufzend riss Charley die Haustür auf.
Vor ihr stand lächelnd ein gut aussehender junger Mann mit lockigen braunen Haaren und Grübchen auf seinen geröteten Wangen. Es dauerte einen Moment, bis Charley kapierte, um
wen es sich handelte. Ohne seinen gelben Helm hätte sie ihn fast nicht erkannt.
»Ich hab mal drauf spekuliert, dass Sie zu Hause sind«, sagte er und präsentierte eine Flasche Rotwein, die er bisher hinter dem Rücken verborgen hatte. »Lust auf ein Glas?«
Charley sah sich um, weil sie fürchtete, James oder Franny könnten im Flur stehen und sie beobachten. Aber die beiden schliefen fest, es war Freitagabend, sie hatte seit Monaten kein echtes Date gehabt, dachte sie, und noch länger keinen richtigen Sex und … und was war mit ihr los? »Ich glaube nicht, danke«, erklärte sie ihm.
»Sind Sie ganz sicher?«, fragte er, bemüht, nicht allzu überrascht zu klingen. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens umspielte seine attraktiven Züge und verriet, dass er diese Masche nicht zum ersten Mal anwandte und nicht gewohnt war, eine Abfuhr zu bekommen.
Was soll’s, sagte sie sich. Ein paar Gläser Wein mit einem gut aussehenden Fremden, ein paar Lügen, die in ihr Ohr geflüstert wurden, ein paar weitere in seins. Ein paar weiche, innige Küsse, ein paar routinierte Liebkosungen, die vielleicht zu ein paar Stunden unkompliziertem, leidenschaftlichem Sex führten.
Wo? Auf dem Sofa? In ihrem Bett?
Wo jeden Moment ihre Kinder hereinkommen und sie überraschen konnten.
Was würde sie sagen? Wie konnte sie es erklären?
Nein, dieser Mann ist nicht euer neuer Daddy. Ich kenne ihn kaum. Nein, er übernachtet nicht hier.
Unkompliziert ?, wiederholte sie stumm. Wann war in ihrem Leben je etwas unkompliziert gewesen?
Sie erinnerte sich an das erste Mal, dass Franny zur Geburtstagsfeier einer Klassenkameradin eingeladen war. »Wo wohnt Erins Daddy?«, hatte sie gefragt, als Charley sie abholte.
»Er wohnt bei Erin und ihrer Mommy«, erklärte Charley ihr.
Die Verwirrung in Frannys Miene war einem ungläubigen Staunen gewichen. »Du meinst, Mommys und Daddys können auch zusammenwohnen?«
Charley musterte den muskulösen jungen Mann, der verführerisch lächelnd auf ihrer Schwelle stand. Ohne seinen gelben Helm war er sogar noch sexier, dachte sie und spürte, wie ihre Entschlossenheit schwand und ihr Körper zu seinem strebte. »Ja, ich bin mir sicher«, sagte sie und schloss leise die Tür.
KAPITEL 13
»Vogelfrei ist ein Ausdruck, der aus der mittelalterlichen Rechtsprechung stammt«, sagte Charley, als Jill Rohmer den kleinen Gesprächsraum im Pembroke Correctional betrat. »Laut Internet hat es absolut nichts mit dem zu tun, was wir uns unter Freiheit vorstellen, heißt also keineswegs: frei wie ein Vogel«, fuhr sie fort, während die Wärterin Jill die Handschellen abnahm, den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog. Das Herz schlug Charley bis zum Halse.
Jill trug ihre orangefarbene Häftlingskluft, bestehend aus T-Shirt und weiter Hose. Sie nahm auf dem Stuhl gegenüber von Charley Platz, faltete ihre kleinen Hände auf dem Tisch zwischen ihnen und starrte Charley aus tiefschwarzen Augen an. »Sondern?«
»Vogelfrei kommt eigentlich von ›den Vögeln zum Fraß freigegeben‹ wie ein Gehenkter«, fuhr Charley bereitwillig fort, weil es ihr Zeit gab, ihre Gedanken zu ordnen. Obwohl sie die vergangenen fünf Tage mit Recherchen und der Vorbereitung ihrer Fragen zugebracht hatte, war ihr Verstand beim Anblick der jungen Frau mit dem Pferdeschwanz in der Todestrakt-Uniform wie eine blank gewischte Schiefertafel. Übrig geblieben waren nur die Informationen, die sie über das Wort vogelfrei zusammengetragen hatte und nun
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