Die Katze
ausmacht.« Pam wies in den hinteren Teil des Hauses. »Durchs Esszimmer. Die letzte Tür rechts.«
Beim Hinausgehen warf Alex Charley einen Blick zu. Sachte, sachte, warnten seine Augen.
»Es tut mir leid, dass ich derart schmerzhafte Erinnerungen aufwühlen muss«, begann Charley.
»Man denkt, mit der Zeit würde es leichter«, sagte Pam ebenso sehr zu sich wie zu Charley. »Wie heißt noch das Sprichwort? Die Zeit heilt alle Wunden?«
Charley nickte.
»Nun, das ist nicht wahr. Manche Wunden heilen nie.«
Charley erinnerte sich, wie sie ihrer Mutter beim Packen zugesehen hatte, und an das hohle Gefühl in ihrer Brust, wie von einer Stichwunde, an der sie langsam verblutete. Sie erinnerte sich an den Anblick des leeren Schrankes, der einst die Puppensammlung ihrer Mutter beherbergt hatte, und wie sie wie von einem Schlag in die Magengrube getroffen zusammengesackt war. Und sie erlebte noch einmal die Taubheit, die sie überwältigt hatte, wenn sie Abend für Abend an der Haustür gestanden und darauf gewartet hatte, dass ihre Mutter nach Hause kam. Pam hatte recht. Manche Wunden heilten nie.
»Tut mir leid, dass ich mich so kindisch benehme«, sagte Pam.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen.«
»Ich will ja Ihre Fragen beantworten. Jill sagt, es wäre wichtig.«
»Was hat sie sonst noch gesagt?«
»Dass sie nicht will, dass ich irgendetwas zurückhalte, sondern die ganze Geschichte erzähle.«
»Glauben Sie, dass Sie das können?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich glaube schon.«
»Es ist nicht leicht. Jeder hat seine Wahrheit. Niemand denkt von sich, er wäre der Böse. Wir haben alle unser kompliziertes System von Rechtfertigungen und Erklärungen für unsere Taten. Ich weiß, dass Ethan es hat.«
»Haben Sie je mit ihm über die Geschehnisse geredet?«
Pam lachte, ein spitzer hohler Klang wie ein brechender Ast. »Ich habe es einmal versucht. Nachdem seine Frau ihn rausgeschmissen hatte und er wieder hier eingezogen war. Aber er hat alles abgestritten und gesagt, ich wollte ihm bloß Ärger machen. Er besteht darauf, dass er mich nie angerührt hat und ich mir das Ganze bloß ausgedacht habe.«
»Was ist mit Ihrem Vater?«, fragte Charley.
Die verbliebene Farbe in Pams Gesicht verblasste rasch vollends. Sie tastete nach ihrem linken Ohr. »Er wird manchmal ein bisschen grob.«
»Stimmt es, dass er den Hund der Familie erschossen hat?«
»Der Hund war alt und krank. Ihn zu erschießen war mehr ein Gnadenakt als sonst irgendwas.«
»Glauben Sie das wirklich?«
»Welchen Unterschied macht das? Es ist lange her.«
»Manche Wunden heilen nie«, erinnerte Charley sie.
Pam stöhnte leise.
»Hat Ihr Vater Sie auch belästigt? Hat er Jill belästigt?«
»Hören Sie«, sagte Pam flehend. »Ich möchte meiner Schwester helfen, ganz ehrlich. Aber die Dinge, von denen Sie sprechen, sind vor langer Zeit geschehen, und Jill hat gut reden. Sie muss ja nicht weiter in diesem Haus leben.«
»Sie müssen es auch nicht. Sie können zur Polizei gehen. Man wird Ethan und Ihren Vater verhaften.«
»Und was ist mit meiner Mutter? Was würde mit ihr geschehen? Ich habe kein Geld. Wie kann ich mich um sie kümmern, wenn mein Vater und mein Bruder ins Gefängnis kommen?«
Charley zögerte und erinnerte sich plötzlich an das Telefongespräch mit Jill. »Glauben Sie, Ihre Mutter wusste von dem Missbrauch?«
»Meine Mutter war ebenso sehr ein Opfer wie Jill und ich.«
»Aber sie wusste, was los war?«
»Ich weiß es nicht. Was hätte sie außerdem machen sollen?«
»Sie hätte Sie schützen können. Sie hätte Sie aus diesem Haus wegbringen können?«
»Glauben Sie, es ist so leicht, einfach wegzugehen?«
Charley dachte an ihre eigene Mutter. Wie leicht war es für sie gewesen?
Pam schaltete unvermittelt den Kassettenrekorder aus. »Das Interview ist beendet.« Sie stand auf. »Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen.«
»Warten Sie bitte.« Charley sprang auf. »Nur noch ein paar Fragen.«
Pam legte den Kopf zur Seite und wartete, dass Charley weitersprach.
»Glauben Sie, dass Jill diese Kinder ermordet hat?«
»Die Beweislast war ziemlich erdrückend.«
»Das habe ich nicht gefragt.«
»Das ist trotzdem meine Antwort.«
»Glauben Sie, dass sie alleine gehandelt hat?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Sie glauben also, dass noch jemand beteiligt gewesen sein könnte?«
»Was ich glaube, spielt doch im Grunde keine Rolle, oder?«
»Kommt drauf an. Glauben Sie, dass dieser Jemand Ethan
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