Die Kaufmannstochter von Lübeck
auch im Raum war, begann zu beten.
Tränen rannen über Johannas Gesicht. Dass ihr Vater jetzt unwiderruflich von ihnen gegangen war, konnte sie nicht fassen. Sie fühlte sich wie betäubt. Ihre Lippen formten die Worte des Gebets wie von selbst, und der Klang ihrer eigenen Stimme war ihr plötzlich so fremd, als würde jemand anderes sprechen. Erinnerungen stiegen in Johanna auf. Sie dachte an all die vergangenen Jahre, vor allem jene seit dem Tod ihrer Mutter, in denen ihr Vater für sie gesorgt hatte. So lange war er der Mittelpunkt ihrer durch die Pest dezimierten Familie gewesen. Und jetzt war er nicht mehr da. Und auch wenn Johanna sich sagte, dass er nun beim Herrn war und der Eingang in dessen himmlische Herrlichkeit für ihn ganz gewiss offen stand, so war das selbst für eine tiefgläubige junge Frau wie Johanna kein richtiger Trost.
Schließlich wandte sich Johanna ihrer Schwester zu, deren Gesicht ebenfalls von Tränen überdeckt war. Sie sahen sich an, und dann nahm Johanna sie in den Arm. Mochte auch so manches Mal etwas zwischen ihnen gestanden haben, so war ihnen jetzt das, was sie miteinander verband, viel wichtiger. Sie hatten nun nur noch einander. Mehr war von der Familie von Dören nicht geblieben.
Cornelius Medicus verabschiedete sich unterdessen.
»Wo ist Bruder Emmerhart?«, fragte Brun Warendorp sichtlich irritiert. »Ich hätte erwartet, dass er ebenfalls mit zum Haus von Dören kommt, um für die Erteilung der Totensakramente bereitzustehen. Schließlich war er doch immer der Priester, dem Moritz vertraute.«
Johanna ließ ihre Schwester los und wischte sich die Tränen ab. »Ich glaube nicht, dass Bruder Emmerhart noch den Weg in dieses Haus findet«, sagte sie. »Und wenn doch, so weiß ich nicht einmal, ob er willkommen wäre.«
»Verzeiht, Johanna, dass wir über solche Dinge im Angesicht Eures toten Vaters sprechen müssen – aber wie soll ich das verstehen?«
»Am besten so, wie ich es gesagt habe! Ich traue ihm schon seit einiger Zeit nicht mehr – und ich habe versucht, meinen Vater vor ihm zu warnen.«
»Euer Vater hat ein paar Andeutungen über eine Verschwörung gemacht …«
»… zu der außer Bruder Emmerhart wohl auch Herward von Ranneberg, Endreß Frixlin und Auke Carstens der Ältere gehören, ja!«, bestätigte Johanna. »Er wollte in der Tat mit Euch darüber reden, und dass er es wirklich getan hat, beruhigt mich zumindest.«
»Ich gebe zu, dass ich diese Andeutungen nicht besonders ernst genommen habe.«
»Ab heute müsst Ihr es. Denn dieser Schlag mag meinem Vater gegolten haben – aber in Wahrheit seid Ihr gemeint, Bürgermeister!«
Brun Warendorp nickte langsam. »Das ist gut möglich, was Ihr sagt. Allerdings muss ich Euch noch ein paar weitere, höchst unangenehme Fragen stellen.«
»So stellt sie! Und haltet Euch dabei nicht zurück. Es sind schon so viele Lügen in der Welt, dass ich sie ohnehin kaum alle richtigstellen kann.«
»Entspricht es der Wahrheit, dass Ihr einen Brief von Frederik von Blekinge erhalten habt?«
»Ja, das tut es. Und den müssen diese Schurken abgefangen haben, um ihn zu kopieren und in aller Öffentlichkeit zu präsentieren.«
»Wie sollte Herward und denen, die mit ihm gemeinsame Sache machen, dies gelungen sein?«
»Das frage ich mich auch.«
»Habt Ihr den Brief noch?«
»Gewiss.«
»Dann will ich ihn sehen«, verlangte der Bürgermeister.
»Sein Inhalt ist sehr persönlich und betrifft nur mich und Frederik, der im Übrigen vollkommen unschuldig ist. Aber da Herward von Ranneberg über eine Abschrift verfügt, kann wohl ohnehin nichts davon verborgen bleiben!«
Johanna ging zusammen mit Brun Warendorp in das Schreibzimmer. Den Brief hatte sie in einer verschließbaren Schublade aufbewahrt. Sie übergab ihn dem Bürgermeister, der das Pergament auseinanderfaltete und durchlas. Eine tiefe Furche erschien auf seiner Stirn. »Dieser Brief war gesiegelt.«
»Ja, aber auf eine sehr seltsame Weise. Ich hatte mich von Anfang an gewundert, dass das Wappen der Familie von Blekinge fehlte.«
»Und das hat Euch nicht misstrauisch gemacht?«
»Doch, aber ich habe geglaubt, dass dies um der Geheimhaltung willen geschah. Aber das war nicht der Fall.«
»Ihr werdet sicher verstehen, dass ich diesen Brief an mich nehmen muss – schon, um ihn mit der Abschrift zu vergleichen.«
Es fiel Johanna schwer, diese einzige Nachricht von Frederik aus der Hand zu geben. Andererseits hatte sie den Brief in der Zwischenzeit
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