Die Kaufmannstochter von Lübeck
ohnehin dutzendfach gelesen. Jedes Wort, das dort stand, kannte sie in- und auswendig. Und angesichts der Umstände blieb ihr wohl gar keine andere Wahl, als ihn dem Bürgermeister zu überlassen.
»Immerhin kann so jeder sehen, dass es wirklich nur um eine Verbindung zwischen zwei Menschen und nicht um den Verrat von Geheimnissen oder dergleichen geht.«
»Genau das wird man aber behaupten«, widersprach Warendorp. »Denn wer will ausschließen, dass dieser Brief nicht in Wahrheit die Antwort auf ein Schreiben ist, das Ihr ausgesandt habt, um unsere Feinde über den Stand unseres Flottenbaus und die Anzahl der angeworbenen Waffenknechte zu informieren.«
»Aber dazu brauchte es doch keiner geheimen Nachrichten! Waldemar muss nur einen seiner Getreuen auf ein paar Meilen an Lübeck heransenden, dann wird der überall sehen können, was geschieht! Schiffe sind schließlich so groß, dass man sie nicht im Verborgenen anfertigen kann!«
»Man wird sagen, dass jemand, der bereit ist, einen heiligen Ort hemmungslos zu entweihen, wie Ihr es offenbar bedenkenlos getan habt, auch bereit ist zu lügen oder sonst alles Mögliche zu tun, was den Geboten des Herrn widerspricht.«
Johanna schluckte. Sie war sich nicht sicher, was den Bürgermeister mehr empörte: die frevelhaften Dinge, die die Tochter eines seiner engsten Vertrauten wohl getan hatte, oder die Tatsache, dass er nun auch selbst in arge Bedrängnis geraten konnte, da sich seine Gegner als Reaktion auf das Geschehene zusammenschlossen.
»Was wird aus alledem werden?«, fragte Johanna nun offen heraus. Sie wollte wissen, ob sie sich auf den Schutz und die Hilfe des Bürgermeisters verlassen konnte – so wie es ihr Vater so lange Jahre getan hatte.
»Das kann ich Euch nicht sagen!«
»Ihr müsst mir glauben, dass …«
»Glauben?«, echote Brun Warendorp. »Ich will ganz offen sein: Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Ich hoffe, Ihr vergesst nicht, dass mein Vater immer treu zu Euch gestanden hat, ganz gleich, wie hoch die Wogen auch steigen mochten!«
Er musterte Johanna auf eine Weise, die man wohl nur prüfend nennen konnte. »Ja, was Euren Vater betrifft, so habt Ihr recht. Und Ihr könnt sicher sein, dass ich niemals vergessen werde, was er in all den Jahren für mich getan hat.«
»Mehr kann ich nicht verlangen.«
»Allerdings kann ich auch nicht vergessen, was ich über Euch gehört habe, und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich davon halten soll. Eine Heilige, die vom Herrn gesegnet wurde, indem sie die Pest überlebte, und es ihm dann dadurch gedankt hat, dass sie etwas wurde, was mit dem Wort Heilige wirklich nicht mehr beschrieben werden kann …«
»Ich …«
Eine Handbewegung des Bürgermeisters brachte sie zum Schweigen. Sie wusste, dass es sinnlos war, noch irgendetwas erklären oder richtigstellen zu wollen. Vielleicht würde das zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein, aber nicht jetzt.
»Ich halte es für möglich, dass Euch ein Anflug von kurzfristiger Raserei für die Wirklichkeit hat blind werden lassen. Blind auch dafür, dass Ihr vielleicht einem Mörder und Intriganten gedient habt.«
»Das ist nicht wahr«, flüsterte Johanna.
»Die andere Möglichkeit ist, dass Ihr tatsächlich die Wahrheit sprecht. Immerhin habt Ihr – zumindest zum Teil – Euren Vater davon überzeugen können. Und dessen Urteil habe ich immer als scharfsinnig angesehen und geschätzt.«
»Ich verstehe«, murmelte sie.
»Das wiederum bezweifle ich. Ganz gleich, was nun die Wahrheit ist: Ihr wisst wahrscheinlich gar nicht, welchen Orkan Ihr durch Euer unbedachtes Handeln ausgelöst habt. Und ich werde jetzt zusehen müssen, wie ich in diesem Sturm das Ruder nicht aus der Hand gleiten lasse, was mich vermutlich sehr viel Kraft kosten wird. Kraft, die eigentlich dem Kampf gegen Waldemar gewidmet werden sollte, denn diese Auseinandersetzung wird noch schwer genug, und ihr Ausgang ist alles andere als gewiss!«
Brun Warendorp atmete tief durch, und Johanna wusste auf die Worte des Bürgermeisters nichts mehr zu sagen. Trauer mischte sich mit Scham. Und gleichzeitig war da die tiefe Empfindung in ihr, dass sie doch nichts Falsches getan hatte. Nichts, außer einem anderen Menschen ihre größte Liebe und Zuneigung zu geben, woran doch nichts Verwerfliches sein konnte.
»Es tut mir leid, Johanna«, fuhr Brun Warendorp dann in gedämpftem Tonfall fort und wich dabei Johannas Blick aus. »Ich weiß nicht, ob ich in Zukunft noch viel
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